Eine Rezension von Ursula Reinhold


Kriminalfälle - neu erzählt

Wolfgang Mittmann: Tatzeit

Große Fälle der Volkspolizei (2)

Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin 1998, 268 S.

 

Nachdem der Autor 1995 mit Fahndung schon einmal große Fälle der Volkspolizei aufgegriffen und erzählt hatte, widmet er sich hier weiteren aufsehenerregenden Kriminalfällen aus verschiedenen Jahrzehnten der DDR-Geschichte. Er rekonstruiert seine Fälle präzis aus den polizeilichen Unterlagen und vor dem Hintergrund zeitgeschichtlichen Umfeldes. Es kommt ihm dabei das Wissen des Praktikers zugute, der die Ermittlungsarbeit aus 34 Jahren kriminalistischer Polizeiarbeit kennt, und die Versiertheit des Krimiautors, der schon zu DDR-Zeiten mit Krimis hervorgetreten war. Der Autor erzählt sachbezogen und kundig, läßt Spannung aus dem Gegenstand erwachsen, ohne äußerliche Effekthascherei. Das Besondere seiner Erzählung gründet in der durch Recherche beglaubigten Darstellung, von der auch die Literaturhinweise des Anhangs Auskunft geben. Sie läßt Authentizität entstehen, zu der auch die Rekonstruktion des zeitgeschichtlichen Hintergrundes beiträgt, die jede Tat und Ermittlungsarbeit einem historischen Augenblick unverwechselbar zuordnet. Er wählt durchweg Kriminalfälle mit zeittypischer Brisanz aus. In drei der vier Fälle haben die Verbrecher ihr Aktionszentrum in Berlin, sind die Verbrechen in ihrer Eigenart an die Ost-West-Spannungen und das wirtschaftliche Gefälle zwischen den gespaltenen Stadtteilen bis zur Schließung der offenen Grenze im Jahre 1961 gebunden. Auch der Verlauf der polizeilichen Ermittlungsarbeiten wird wesentlich durch die Spaltung der Stadt beeinträchtigt. So wird der aus Habgier verübte „Mordfall Lemke. 1948 - die Spur führt nach Berlin“ nicht nur zu einem zeittypischen Sittenbild, sondern auch zu einem präzisen geschichtlichen Protokoll über die Behinderung polizeilicher Ermittlungsarbeiten durch die Spaltung der Polizeibehörden. Das geteilte Berlin war ein gutes Pflaster für Verbrecher jeder Art. Es wird deutlich, daß schon ein „gewöhnlicher Mörder“ im Jahre 1948 einkalkulieren konnte, wegen der Spaltung nicht gefaßt zu werden. In „Treffpunkt Sektorengrenze. 1953 - Der Überfall auf den Zirkus Barlay“ geht es um einen Fall, der schon Gegenstand des DEFA-Filmes „Alarm im Zirkus“ war. Gegenüber der damaligen Version vom Diebstahl der Pferde des volkseigenen Zirkus Barlay durch einen Westberliner Zirkusdirektor hat der Autor jetzt etwas tiefer gelotet und dargestellt, daß der Besitzer die Pferde bei seinem Übertritt in die DDR mitgebracht hatte. Man hatte hier die Pferde einbehalten, wegen wirklicher und vermeintlicher Steuerschulden, als der Besitzer erneut in den Westen übersiedelte. Auch „Brennpunkt Optik. 1957 - Schmuggel über die Pyrenäen“ nimmt einen Fall wieder auf, der schon von der DEFA unter dem Titel „Ware für Katalonien“ verfilmt worden war. Auch hier verdient die neue Sichtweise auf einen schon bearbeiteten Fall Beachtung, denn sie verleiht der Darstellung eine zusätzliche zeitgeschichtliche Dimension. Besonderes Interesse hat bei mir das Interview mit dem Organisator des Schieberringes von damals erregt, der straffrei blieb und auf Mallorca seine Millionen verzehrt. Er spricht heute ganz offen über die Organisation seines umfangreichen Schieberringes, mit dem er Zeiss-Optik in größeren Mengen aufkaufen ließ. Er warb viele kleine Schieber an, die mit gestohlenen und gefälschten DDR-Personalausweisen am Aufkauf beteiligt waren. Den Vertrieb dieser optischen Geräte organisierte er in einem verzweigten Netz bis nach Spanien. „Mordakte H. 1969 - Es geschah in Eberswalde“ behandelt einen Fall aus den 60er Jahren, nach dem Mauerbau. Der Autor rekonstruiert hier den Fall eines Triebtäters aus der Umgebung Berlins, der die Menschen in Eberswalde und vor allem die Polizei zwischen 1969 und 1973 in Atem hielt. Langwierig war die polizeiliche Ermittlungsarbeit auch darum, weil die Öffentlichkeit nur in geringem Grade einbezogen werden durfte. Die DDR-Behörden waren vor allem daran interessiert, ein Gefühl von Sicherheit zu erzeugen und sich öffentlich als Staat zu präsentieren, in dem jeglichem Verbrechen der Boden entzogen war. Triebtätern gegenüber waren die DDR-Behörden vollkommen hilflos. Über ihren Taten lag ein öffentliches Redeverbot. Solche Verbrechensformen widersprachen dem optimistischen Menschenbild der DDR-Ideologie. Der Autor recherchiert auch diesen Fall sachkundig aus den Ermittlungsakten und skizziert zudem das Bild des jugendlichen Täters, der - unauffällig für seine Umgebung - einerseits ein bestialischer Mörder, zum anderen ein hilfloser, verklemmter, Kontakt suchender Mensch war. Obwohl offensichtlich krank, wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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