Eine Rezension von Hans-Rainer John


Rückkehr zu den Ursprüngen

A. F. Th. van der Heijden: Fallende Eltern

Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997, 520 S.

 

Nicht unkompliziert, diesen Roman zu beschreiben und einzuordnen: keine durchgehende Handlung (so etwas wie eine Fabel endet bereits zur Halbzeit), der Held ist weder übermäßig interessant oder amüsant. Im zweiten Teil folgen splitterhafte und teils fragwürdige biographische Erinnerungen, unterlegt mit einer diffusverschwommenen Philosophie. Am Ende wird unser Interesse am Schicksal eines ganz anderen Menschenkindes geweckt, und plötzlich ist Schluß, ohne daß man den Buchdeckel mit dem Gefühl schließt, daß hier etwas organisch zu Ende geführt wurde. Dem gegenüber steht freilich eine phänomenale Fabulierfähigkeit des Autors, der durch viele gelungene Details entschädigt, was er an Gesamtkonstruktion, kontrastreicher Handlung und zielsicher agierenden Charakteren schuldig bleibt. Van der Heijden besticht durch derart dichte, anschauliche, bildhafte und wortgewaltige Schilderungen, daß man immer das Gefühl erhält, mit dabeizusein; die eigene Erfahrung wird hundertfach bestätigt. Manchmal allerdings kann auch diese Konkretheit und Detailliertheit quälend sein: Er huldigt ihr nämlich auch und vorzüglich bei unappetitlichen Vorgängen, über die jeder andere Literat dezent hinweggleitet. Da wird einem dann doch mitunter unwohl, und man fühlt sich quasi als Voyeur. So stehen Stärken und Schwächen eng beieinander, und es wird wohl vom Anspruch und subjektiven Geschmack des Lesers abhängen, was (bei ihm) am Ende überwiegt. Man liest das Buch durchaus mit Interesse, aber nicht immer ohne Mühe und auf jeden Fall ohne die durchgehende Spannung auf den Fortgang der Ereignisse. Wir werden in das Nimwegen der siebziger Jahre geführt. Hier studiert Albert Egberts, 26 Jahre alt, aus ärmlichem Hause stammend, Philosophie. Das freilich gilt ihm mehr als Alibi für Nichtstun. Lieber sitzt er sich den Hintern auf dem Barhocker platt. Das ziellose Versacken auf Feten und bei Kneipentouren mit Kumpanen (besonders mit dem betuchten Studienfreund Thjum Schwantje) und üble Streiche oder Schlägereien im Suff bilden den Lebensinhalt. Kein wirklicher Übermut regiert, keine zielgerichtete Aktivität, man gammelt eher schlaff und hilflos dahin, lethargisch und kraftlos, provokativ träge und lasch, extrem lahm und lax. „Erst im letzten Moment kam ich in Bewegung“, heißt es da oft, „allerdings wie ein Schlafwandler, ohne aufzuwachen, willenlos.“ Es fehlt sogar die Energie, Mädchen aufzureißen, freilich mangelt es auch nie an Damen, die sich ihrerseits zu allem bereit an die Studenten klammern. Geld ist natürlich immer Mangelware, aber Thjums Vater, ein reicher Fleischfabrikant, hat ja ein Haus zum Wohnen zur Verfügung gestellt. Eines Tages freilich wird zu weit über die Stränge geschlagen und der Auszug aus dem Paradies gefordert. Albert und Thjum, aus dem Haus gewiesen, beschließen daraufhin, nach Amsterdam zu wechseln. Albert bestellt den Umzugswagen, packt alles hinein, weiß aber schließlich keinen Bestimmungsort zu nennen - er hat einfach nicht daran gedacht, eine Wohnmöglichkeit in der Hauptstadt zu sichern.

So lenkt er denn die Fuhre nach Geldrop, seinem Geburtsort, und zieht bei seinen Eltern wieder ein, läßt sich als Aufsteiger aus dem Arme-Leute-Milieu bewundern und schmarotzt schamlos von ihren kargen Mitteln. Zurückgekehrt zu seinen Ursprüngen, sucht er nach seiner persönlichen Bestimmung. Die Wiederkehr in die verhaßte Umgebung - sein Verhältnis zu den Eltern ist von Anhänglichkeit, Haß und Verachtung bestimmt - läßt Erinnerungen lebendig werden an die hier verlebte Vergangenheit - von der Geburt an (fragwürdig in jedem Fall: wer vermag sich wohl später so genau noch an die Kleinstkind-Phase zu erinnern?), über Kindheit und Schulzeit bis zur Pubertät und Studienreife. Urgroßeltern, Großeltern und Eltern werden in prägnaten Momenten erinnert, Geschwister, Freunde, Nachbarn, Verwandte, und das alles wird übertüncht mit wehmütigem Schmerz und Weltuntergangsphilosophie (oh, wäre ich nie geboren!).

Die Episoden springen völlig unchronologisch hin und her, dabei erklärt sich auch der Buchtitel, ein bißchen platt freilich. Die Mutter ist mal mit dem Fahrrad gestürzt, und der Vater pflegte am Wochenende mit dem Motorrad eine Kneipe nach der anderen abzufahren und auszuprobieren; im volltrunkenen Zustand die Heimfahrt antretend, kollidierte er regelmäßig mit dem Pflaster oder einer Mauer und kam mit blutigem Kopf nach Hause. Aus unerfindlichen Gründen zweifelt Albert übrigens, daß sein legitimer Vater sein leiblicher sei, er hegt heimlich einen Verdacht, aber der Schleier lüftet sich nicht. Auf jeden Fall: Geschichten über Geschichten, gute und entbehrliche, wichtige und funktionslose. Noch am Schluß wird eine neue Story angerissen, die von Egbert Egberts, Jimmy und Gonneke, aber wer vermutet hat, daß Albert, der Held, irgend etwas dazulernt oder zumindest Anstalten macht, nach Amsterdam zu ziehen, der wird in seiner Erwartung enttäuscht. Er schafft es auch am Ende nicht, seine Position zu bestimmen oder sich eine Meinung zu bilden. („Ich schaffte es nicht. Und sah ein, daß es nie anders gewesen war. Bereits nach wenigen Minuten sackte meine Aufmerksamkeit ab.“) Und möglicherweise will ihn sein Autor auch an seinem Ausgangspunkt, seinem Geburtsort, stranden sehen. Wenn ein Verlagsprospekt vermeldet, es handle sich um einen Roman über den Fluch der Herkunft und die hundertfachen Anstrengungen, ihr zu entrinnen, so muß der Verfasser ein anderes Buch gelesen haben. A. F. Th. van der Heijden (47) lebt in Amsterdam und gilt als „der wohl sprachmächtigste Dichter, den die Niederlande augenblicklich besitzen, der mit Sicherheit sinnlichste, der nun seit fast zwanzig Jahren stampfend, dampfend den Weg vom Himmel durch die Welt der Kloake ausmistet und ausmißt, ein Saft- und Kraftgenie, wie Holland es seit dem Barock nicht mehr hatte“ (Klappentext). Bei Suhrkamp erschien von ihm bereits Ein Tag, ein Leben (1992), Der Widerborst (1993), Der Anwalt der Hähne (1995) und Die Drehtür (1997).


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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