Eine Rezension von Alice Scemama


Eine Geschichte gestörter Familienbeziehungen

Esther Freud: Sommer in Gaglow

Roman. Aus dem Englischen von Karin Kersten.

Hoffmann und Campe, Hamburg 1998, 351 S.

 

Dieses sprachlich sehr schön erzählte Buch behandelt die Geschichte gestörter Familienbeziehungen. Es ist ein Buch der vertanen Zuneigung, eines fehlgeleiteten Treuebegriffs, der verschenkten Liebe. Über fünf Generationen wird berichtet, und nur die erste, älteste, wird in der Lage sein, eine harmonische Partnerschaft zu führen. Die Probleme der nachfolgenden Generation beginnen bereits im Elternhaus: Deutschland 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Familie der Belgards mit ihrem Sohn und den drei Töchtern genießt noch unbelastet die Idylle ihres Sommerdomizils in der Nähe von Berlin: Gaglow. Jedes Jahr siedeln sie ab dem Frühling hierher über, auch in Kriegszeiten. Der Ort gewinnt nahezu magische Bedeutung für Marianna, die Ehefrau von Wolf Belgard und Mutter der Kinder. Marianna, eine intelligente, lebhafte, unangepaßte Frau, ist relativ erfolglos in dem Bestreben, diese Anziehungskraft ihren Töchtern nahezubringen. Deren Liebe zu erringen bleibt für sie allen ehrlichen Bemühungen zum Trotz unmöglich. Die Mädchen stehen unter dem Einfluß der Gouvernante, genannt Schu Schu, die der Mutter systematisch die Töchter entfremdet, und der ältesten Tochter, Bina, die sich gegenüber ihren Schwestern zur Wortführerin aufschwingt. Heftig und für Außenstehende absolut unverständlich ist ihre einhellige Ablehnung der Mutter. Nur Eva, die Jüngste, läßt sich ab und an von der Mutter einnehmen, jedoch verbirgt sie dies sorgsam vor den anderen. Sie alle leben in einer versponnenen Welt, bis der Krieg sie nach und nach einholt - zunächst Emanuel, den erwachsenen Sohn, der freiwillig in den Krieg zieht. Wolf Belgard, jüdischer Getreidegroßhändler, ist einer der wenigen, die den Krieg von Beginn an ablehnen. Er liefert dem Kaiser nur unter einer Bedingung das Korn für die Versorgung des Heeres: Er verzichtet auf jeglichen Gewinn. Diese ehrbare, doch folgenschwere Entscheidung wird für ihn den Ruin und schließlich indirekt den Tod bedeuten.

Schnitt: London, einige Jahre nach der Wende. Die arbeitslose Schauspielerin Sarah erwartet ein Baby von einem Mann, der sie verließ. Zur Ablenkung sitzt sie ihrem Vater, einem Maler, Modell. Die Fertigstellung des Gemäldes benötigt fast anderthalb Jahre - die neunmonatige Schwangerschaft und noch ein mehr als ein halbes Jahr nach der Geburt des kleinen Sonny. Dies ist mehr als (un)verständlich, wuchs doch der Bauchumfang mit jedem Monat, mußte das Bild also ständig korrigiert werden. In den Pausen zwischen den langen Sitzungen erfährt Sarah von ihrem Vater, daß durch die Wende ein alter, in Ostdeutschland gelegener Besitz, Gaglow, wieder an die Familie rückübertragen werden soll. Wohl interessiert sich Sarahs Vater nicht dafür, jedoch dessen Vetter. Sarahs Interesse ist geweckt. Ihr Vater verrät nur Bruchstücke der Familiengeschichte, und diese Erinnerungen sind, wie der Leser inzwischen weiß, auch noch meistens falsch. Die Autorin führt diese beiden Handlungsstränge nebeneinader her, ohne sie jemals wirklich zusammenfließen zu lassen oder miteinander zu verknüpfen. So befindet sich der Leser in der seltsamen Situation, mehr zu wissen als die Familienangehörigen, und er möchte deren Irrtümer gern korrigieren. Über den weiteren Verlauf der Ereignisse nach Kriegsende ist immerhin soviel zu erfahren, daß alle Belgards ab der zweiten Generation mit heftigen familiären und partnerschaftlichen Problemen zu ringen hatten und bindungsunfähig waren oder sind.

Esther Freud, die Urenkelin Sigmund Freuds und Tochter von Lucian Freud, einem realistischen Maler, vermag durchaus mit ihren Erzählungen zu berühren, die psychologische Gestaltung der Personen bleibt jedoch halbherzig, mögliche Motive für ihr ablehnendes Verhalten, ihre mangelnde Sozialisierungsfähigkeit bleiben verschwommen, nur ein einziges wird gegen Ende des Romans angedeutet, kann aber ebensogut falsch sein, da Sarahs Vater sich nie für die Familie interessierte und daher keine verläßlichen Aussagen treffen kann. Auch ist der zeitliche Bogen zu weit gespannt, zu vieles bleibt offen, geht verloren. Bietet die Handlung in der Zeit des Ersten Weltkrieges trotz der beschriebenen Unzulänglichkeiten ein spannendes Zeitbild, so gleitet die Schilderung der Gegenwart unverständlicherweise ab in ein triviales Groschenroman-Szenario und läßt den Leser am Ende ratlos und unbefriedigt in seinem Informationsbedürfnis zurück.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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