Eine Rezension von Licita Geppert


„An den Wissower Klinken ist eine schöne Symphonie hängengeblieben“

Johannes Forner: Brahms

Ein Sommerkomponist.

Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1997, 318 S.

 

Johannes Forner ist Professor für Musikwissenschaft an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater und ausgewiesener Brahms-Kenner. Wer nun eine professoral-trockene Abhandlung erwartet, wird enttäuscht werden. All jene aber, die Musikkenner und Liebhaber guter Literatur sind, werden begeistert sein. Forner hat der Fülle an Brahms-Biographien einen besonderen Aspekt hinzugefügt: Brahms als „Sommerkomponist“. Diese Biographie will keine sein, wenn auch der Leser viele biographische Fakten über den genialen Komponisten erfährt.

Brahms hatte zeitlebens eine besondere Vorliebe für landschaftlich reizvolle Sommerdomizile in der Nähe belebter Städte, da er gemäß dem von dem Geiger und Freund Joseph Joachim übernommenen Lebensmotto „frei, aber einsam“ keine festen Bindungen eingeht, wohl aber Geselligkeit ebenso schätzt wie das Ursprüngliche der Natur. „Wie immer entwirft und formt er auf den Wanderungen seine Musik, sammelt Eindrücke, läßt den Geist arbeiten und die Seele atmen. Wir sehen den Kurzsichtigen mit den Händen auf dem Rücken und mit den stets zu kurzen Hosenbeinen auf ausgetretenen und verschwiegenen Pfaden ausschreiten, umfangen von den Reizen der Natur: Sonne und Wasser, das Rauschen der Bäume und die bewegte Luft, der Duft der Wiesen und die Silhouette der Hügel und Berge.“ Er bezieht seine Inspirationen nicht unbedingt aus der Natur; seine Wanderungen, auf denen er dahinstürmte, blind für andere Menschen, den Kopf voll Musik, sind gewissermaßen der „Katalysator“ für zuvor herangereifte kompositorische Ideen. Forner greift diesen speziellen Aspekt in Brahms’ Leben und Werk auf und widmet sich ausschließlich jenen Kompositionen, die im Sommer entstanden sind. Daraus ergibt sich die innere Struktur des Buches. Plaudernd führt der Autor den Leser von Sommer zu Sommer, von Ort zu Ort, von Komposition zu Komposition. Es beginnt 1861 mit drei heimatlichen Sommern in Hamm nahe Hamburg, dann folgen Baden-Baden und drei Sommer in Lichtenthal. Es schließen sich Tutzing, Rüschlikon bei Zürich, die Umgebung von Heidelberg, Rügen und Pörtschach als kompositorische Sommerstationen an. In späteren Jahren bevorzugt der in Wien lebende Brahms Österreich, holt sich aber mehrfach künstlerische Anregung und Genuß auf Italienreisen, die er mit verschiedenen Freunden unternimmt. Die sommers entstandenen Werke beginnen mit den Händelvariationen op. 24, reichen über die Magelone-Lieder op. 33, Ein Deutsches Requiem op. 45, die schwere Geburt seiner Ersten Sinfonie op. 68 bis zu den Klavierstücken op. 116 bis 119 und schließlich den Choralvorspielen für Orgel op.122 im Sommer 1896.

Seine Sommmerunterkünfte, die er stets mit Sorgfalt auswählt, geraten mit den Jahren in immer stärkerem Maße zu Fluchtburgen, von denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Da Brahms auf Geselligkeit nicht verzichten mag, diese aber nicht mehr in seinen geheiligten Arbeitsbereich eindringen lassen will, schätzt er die Nähe von Städten. Seine Freunde haben besondere Bedeutung in dieser Zeit. Er trifft sich mit ihnen, besucht sie oder lädt sie zu sich ein. Sie haben sich aber seinem streng eingeteilten Arbeitsrhythmus, der in der Frühe mit einer Wanderung beginnt, in jedem Fall unterzuordnen. „Barhäuptig und in Hemdsärmeln, ohne Weste und Halskragen, schwenkte er den Hut in der einen Hand, schleppte mit der anderen den ausgezogenen Rock im Grase nach und rannte so schnell vorwärts, als würde er von einem unsichtbaren Verfolger gejagt... Seine Augen starrten geradeaus ins Leere und leuchteten wie die eines Raubtieres - er machte den Eindruck eines Besessenen ... Er glühte vom Feuer des Schaffens. Nie werde ich den beängstigenden Eindruck der elementaren Gewalt vergessen, den der Anblick der Erscheinung in mir zurückließ.“ So erlebte ihn sein späterer Biograph Max Kalbeck. In diesen Rahmen ordnet Johannes Forner die entstandenen Stücke ein. Der Leser erlebt die Entstehungsgeschichte der Werke mit, er vermag nachzuempfinden, in welcher Weise die Sommererlebnisse das Schaffen beflügeln.

Brahms, dessen stürmischer Charakter und burschikoses Auftreten viele abschreckte, umgab sich gern mit einigen treuen Freunden, deren Zuneigung allerdings, wie Forner anschaulich beschreibt, mancher Belastungsprobe standhalten mußte. Joseph Joachim und Clara Schumann zählten zu seinen ältesten und engsten Freunden. Ihrem Urteil, aber auch dem anderer stellte Brahms die Begutachtung seiner Kompositionen anheim. Er setzte sich selbst die höch sten Maßstäbe und vernichtete viele Werke vor ihrem Bekanntwerden, wie er auch bestrebt war, keinerlei private Zeugnisse an die Öffentlichkeit oder die Nachwelt gelangen zu lassen. Dem Urteil seiner Freunde beugte er sich jedoch nach eigenem Gutdünken: „Clara Schumann lernt die Stücke kennen, auch Elisabeth von Herzogenberg. Sie geben wieder ihre Ratschläge. Brahms erwartet das und macht dann doch, was er will.“ Sein Selbstbewußtsein ist in jeder Hinsicht unerschütterlich. „Orden sind mir Wurscht. Aber haben will ich sie“, wird er in seiner drastischen Art sagen und meint damit seinen selbstverständlichen Anspruch auf Ehrungen. Wurde manche Beziehung auch durch seine Direktheit gestört, so gelingt es ihm meistens, wieder einzulenken. Die freundschaftliche Zuneigung selbst adliger Herrschaften ist ihm indes sicher, und das „kunstsinnige Herzogenpaar Georg II. von Sachsen-Meiningen und Helene Freifrau von Heldburg förderte in großzügiger Weise“ Brahms’ Schaffen und boten ihm einzigartige Arbeitsmöglichkeiten mit ihrer Hofmusikkapelle.

Mit großer Sachkenntnis, musikalischem Einfühlungsvermögen, erzählerischem Geschick und Stilgefühl gelingt dem Autor eine glückliche Synthese aus biographischer Darstellung und Musikanalyse. Die anspruchsvollen musikalischen Werksbeschreibungen, die im Buch großen Raum einnehmen, verlangen jedoch vom Leser viel Sachverstand. Daher ist das Buch, das ergänzt wird durch einen Fototeil und verschiedene Register, vor allem interessantvergnügliche Lektüre für Fachleute oder Brahmsliebhaber.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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