Eine Rezension von Horst Wagner


Bedenkliches aus Neufünfland

Daniela Dahn: Vertreibung ins Paradies

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998, 207 S.

 

Die Titel ihrer Bücher lesen sich wie Schicksals- oder Befindlichkeitsbeschreibungen der Ostdeutschen. Alle enthalten sie Bedenkliches - im Sinne von unbedingt zu Bedenkendem- aus den fünf neuen Ländern einschließlich Ostberlins. Die zu DDR-Zeiten mit ihrer kritischen Prenzlauer Berg-Tour (1987) aufgefallene, zur sogenannten Wende in Bürgerkomitees sitzende Daniela Dahn hat sich mit Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten (1994) und Westwärts und nicht vergessen (1996) in die Reihen der ostdeutschen Bestsellerautoren hineingeschrieben. Nun hat sie mit Vertreibung ins Paradies auch ihr Sammelbändchen für kleinere Arbeiten sowie Vorträge erhalten.

Wem das Wort Paradies im Titel als Beschreibung für heutige bundesdeutsche Zustände zu schönfärberisch ist, der wird alsbald von ihr - etwas boshaft - aufgeklärt: „Im Garten Eden darf vom Baum der Erkenntnis nicht gegessen werden ... In Gottes Gunst gelangt nur, wer an seinem alleinigen Recht, über Gut und Böse zu befinden, nicht rüttelt. Das Paradies ist eine einzige Zumutung.“ (S. 17) Provokativ sind Daniela Dahns Aussagen allemal. Aber sie sind gut belegt durch gründliche Beobachtungen, solide Recherchen und exaktes Zahlenmaterial. Vorangestellt ist den 30 Beiträgen aus den Jahren 1991 bis 1998 - davon sieben Erstveröffentlichungen - ein Zitat Theodor Storms aus dem Jahre 1867. Es bezieht sich auf den Anschluß Schleswig-Holsteins an Preußen, wobei Parallelen zu heute zu ziehen jedem freigestellt bleibt: „Wir können nicht verkennen, daß wir unter Gewalt leben. Dies ist um so einschneidender, als sie von jenen kommt, die wir gegen die Gewalt zu Hilfe riefen, und die uns jetzt, nachdem sie jene bewältigen halfen, wie einen besiegten Stamm behandeln.“ In der sich anschließenden „Einstimmung“ untersucht Daniela Dahn, worin denn die vielzitierte „geistig-kulturelle Hemmschwelle, die seelische Barriere“ im Vereinigungsprozeß besteht. Sie kommt zu dem Schluß, daß die soziale Chancengleichheit für die Ostdeutschen einen höheren Wert als die Freiheit habe. Für die Westdeutschen sei das umgekehrt. In einem aus dem Jahre 1997 stammenden Aufsatz im hinteren Teil des Büchleins kommt sie auf die notwendige Einheit von politischen und sozialen Menschenrechten noch einmal zurück und trifft die kaum zu bestreitende Feststellung: „Nur wo die sozialen Grundrechte verwirklicht sind, können die Freiheitsrechte auch von allen wahrgenommen werden.“ (S.164) Scharf setzt sie sich, gestützt auf die Menschenrechts-Deklaration der Vereinten Nationen, mit solchen Politikern und Rechtsgelehrten auseinander, die behaupten, das Recht auf Arbeit gehöre nicht zu den Grundrechten und dürfe nicht „einklagbar“ gemacht werden.

Freilich: Gegenüber den beiden vorangegangenen Büchern, die sich im wesentlichen mit einem Thema beschäftigten - dem verderblichen Prinzip Rückgabe vor Entschädigung bzw. den Vor- und Nachteilen der DDR-Erfahrungen beim „Ankommen“ in Gesamtdeutschland-, scheint im Sammelbändchen auf den ersten Blick vieles fragmentarisch und wenig geeignet, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Bei genauerem Hinsehen bzw. Hineinlesen zeigt sich aber, daß Daniela Dahn es ausgezeichnet versteht, auch in kleineren Beiträgen, manchmal auf nur zwei Seiten, Wesentliches auf den Punkt zu bringen, gleichsam aphorismenhaft bekannte Tatbestände und Zusammenhänge durch ungewöhnliche, überraschende Formulierungen neu sehen zu lassen. Ein weiterer Vorteil ist zweifellos, daß man wesentliche Ereignisse seit der „Wende“ zeitrafferähnlich Revue passieren lassen kann und dabei den Wandel im Blickwinkel der Autorin ebenso erfährt wie ihr Beharren auf einem Grundstandpunkt. So versetzt uns ihre Reportage „Wir Zettelfalter“ wieder in den Herbst 1989, als Daniela Dahn als Mitglied eines Bürgerkomitees Volkspolizisten verhörte und in Moabit Stasi-Minister Mielke befragte. Neue Erkenntnisse zum Thema „Siegerjustiz“ (heute und 1945) sowie über die Hintergründe der Waldheim-Prozesse bietet ihre hier erstmals ver-öffentlichte Untersuchung „Eine beispiellose Tragödie“. Verblüffend „Eine Ausreiser-Karriere“, das Kurzporträt eines Ärztlichen Direktors, der sozusagen vom Regen in die Traufe kam, weil er in der DDR zu wenig politische Anpassung, im Westen aber zu wenig fachliche Subordination zeigte. Mit dem Thema Anpassung hier und dort, gestern und heute, beschäftigt sich auch ihr hier abgedruckter Vortrag „Mauer durch Kopf und Herz“, den Daniela Dahn im Oktober 1991 auf der Konferenz des Goethe-Instituts in Chicago hielt. Aufschlußreich die 1992 für „Sybille“ geschriebene Studie über Ost- und Westfrauen, nicht weniger die Reportage über den Straßenstrich und die Kulturszene in der Oranienburger. In ihrem 1996 für das Deutschlandradio Berlin verfaßten Feuilleton „Volksherrschaft“ sieht sie den „Hauptwiderspruch im jetzigen Wertesystem darin, daß oberstes Gebot ist, der Kapitalverwertung optimale Bedingungen zu schaffen, nicht aber den Kapitalerzeugern“. (S.128) Und in ihren 1997 in Magdeburg vorgetragenen „Thesen zur inneren Uneinigkeit“ kommt sie zu dem Schluß, daß nicht die private materielle Situation für die Ostdeutschen der Hauptgrund ist, sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen, sondern „die unerfüllten Hoffnungen auf Selbstbestimmung und Emanzipation“. (S.152) Geradezu kafkaesk liest sich ihre im Januar 1998 in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienene Studie über Macht, Funktionsweise und Aufwand der Gauck-Behörde. „Was selbst die Stasi nicht vollendet hat - jetzt entsteht die perfekte Behörde“, findet die Autorin. (S.179) Und: „Wer heute DDR nur noch als Stasi buchstabiert, der ignoriert die Erfahrungen der meisten Ostdeutschen.“ (S.181)

„Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird“, heißt es an anderer Stelle. „Der Streit um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft.“ (S.80) Oder: „Das Unrecht der Arbeitslosigkeit besteht in der unverschuldeten Entwertung des Menschen.“ (S.163) Und zum Thema Globalisierung: „Der Internationalismus war einst die Stärke der Linken. Er hat die Seite gewechselt... Die demokratische Globalisierung von Arbeitnehmerinteressen ist die einzige Alternative zur undemokratischen Globalisierung des Kapitals.“ (S.168) Immer wieder möchte man sich solche Sätze Daniela Dahns als geronnene Wahrheiten für die persönliche Zitatensammlung herausschreiben. Aber das werden Sie selbst feststellen bei der Lektüre dieses lesenswerten Buches.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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