Eine Rezension von Angela Fischel


„Ich gefiel mir selbst zum Entzücken“

Giacomo Casanova: Chevalier de Seingalt - Mein Leben

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Burkhard Brunn. Aus dem Französischen von Heinz von Sauter.

Ullstein Verlag, Berlin 1998, 653 S.

 

„Wer noch im 68sten Jahre so schreiben konnte, der durfte so leben.“ So urteilte schon Friedrich Hebbel in seinen Tagebüchern (12. 1. 1841). Tatsächlich zieht diese herausragende Gestalt der Weltliteratur den Leser vom ersten Moment an in seinen Bann. Wenige jedoch dürften dieses Feuerwerk an Abenteuern, Höhen und Tiefen selbst gelesen haben. Dabei ist sein Name seit mehr als 200 Jahren Legende. Die Idee des sozialen Typus „Casanova“ ist so lebendig wie eh und je und wird voraussichtlich auch in Zukunft nichts von seiner Anziehungskraft auf die männlichen und weiblichen Phantasien verlieren.

Weniger stabil waren hingegen die Meinungen über den Charakter des historischen Giacomo Casanova. Über 150 Jahre galten die Memoiren als reine Ausgeburt der Phantasie, er selbst wurde als oberflächlicher Frauenheld eingestuft. Noch 1928 fällte Stefan Zweig ein vernichtendes moralisches Urteil über ihn. Von den Frauengestalten in Casanovas Memoiren, so stellt Zweig fest, bleibt nichts als „ein fleischfarbendes Gelee warmer wollüstiger Frauenkörper“. Starke Worte, die ohne Zweifel auf die Lektüre einer der zahlreichen frühen Ausgaben zurückzuführen sind, die sich auf die erotischen Episoden der Memoiren beschränkten. Nach der Lektüre von neueren Ausgaben erweist sich dieses Urteil jedoch als Vorurteil. Die Beurteilung des historischen Casanova wurde in den letzten Jahren einer gründlichen Revision unterworfen. Großen Anteil daran hatte die erste Herausgabe des fast 4000 Seiten umfassenden Originaltextes der Memoiren in Deutschland, die 1960-1962 (Propyläen Verlag, Berlin 1964) vollständig erschienen. Ebenfalls 1960 erschien die Biographie von J.Rives Child, die überzeugend belegt, daß alle von Casanova geschilderten Begebenheiten auf historischen Tatsachen beruhen.

Auch die aktuellste Taschenbuchausgabe der Memoiren Casanovas, erschienen beim Ullstein Verlag, räumt mit den Vorurteilen über Casanovas Charakter auf. Auf über 600 Seiten gestattet sie dem Leser einen Einblick in das beeindruckende Spektrum dieses Lebens, den Charakter und die Zeit des Giacomo Casanova, dessen Autobiographie nur das letzte unter den vielen Projekten seines Lebens war.

Einsetzend mit der Jugendzeit in Padua, dem Beginn seiner Laufbahn im Alter von 16 Jahren und seiner kurzen Karriere als Prediger, greift die Textsammlung 16 Abschnitte seines Lebens in chronologischer Folge heraus. Die Schauplätze Venedig, Rom, Paris, Mailand, London, Petersburg, Moskau und Madrid bilden den Hintergrund zu den verschiedenen, meist erstaunlichen Karrieren dieses Lebens. Dabei wird der Leser nicht nur Zeuge der Abenteuer des Autors, sondern er erhält auch Einblick in eine präzise beschriebene zeitgeschichtliche Studie. Allein die Geschichte seiner Inhaftierung durch die venezianische Inquisition und seines spektakulären Ausbruchs aus den „Bleikammern“, dem sichersten Gefängnis seiner Zeit direkt über dem Dogenpalast, sind in sich geschlossene, äußerst spannende Erzählungen.

Immer wieder gelang es ihm, die Gunst der Einflußreichen und Mächtigen zu erlangen, indem er besondere Fähigkeiten, sei es auf dem Gebiet des Lotteriewesens, der Medizin oder auch der Kabbalistik, vortäuschte. Casanova, als hochgebildeter Mann und brillanter Redner, wußte dabei seine Fähigkeiten geschickt einzusetzen. So ist es immer das Zusammenspiel von Täuschung, Spiel und Intrige mit den tatsächlich vorhandenen Qualitäten Casanovas - seiner außerordentlichen sozialen Kompetenz, seiner Intelligenz und seinem Wagemut -, die seine Lebensstrategie prägten.

Obwohl Casanova nichts wichtiger war als gesellschaftlicher Erfolg, schlug er nie den Weg ein, der ihn auf Dauer zu materieller und gesellschaftlicher Sicherheit geführt hätte. Nie war die Karriere das eigentliche Ziel seiner Handlungen, sondern die Lust am Spiel. Die Unabhängigkeit des Außenseiters bot ihm einerseits die lebensnotwendige Mobilität, sie war andererseits auch die Ursache für die immer wiederkehrenden Katastrophen in Casanovas Leben. Planlosigkeit und unvermittelte Wendungen gehörten zu Casanovas Lebensstrategien. Vor die Alternative gestellt, entschied er sich immer für die unkonventionelle Lösung eines Problems. Bewahrt ihn dies vor der Monotonie des geregelten gesellschaftlichen Status, so fordert dieses Spiel doch seinen Tribut.

„Grausame Langeweile!“ klagt im Alter von 72 Jahren der von der neuen Zeit übergangene Casanova, der als Bibliothekar des Grafen von Waldstein die finanzielle Unabhängigkeit und den Glanz der Höfe schmerzlich vermißte. Ganz anders erscheinen ihm im Rückblick die alten Zeiten, in denen er noch von sich sagen konnte: „Übrigens besaß ich eine Menge Geld und brannte darauf es auszugeben, um eine glänzende Rolle zu spielen.“

Casanova erscheint auf der Bühne seines Lebens als Spieler zwischen den Ständen: ein Lebemann und ein Philosoph, ein Blender und Spieler, ein Kabbalist und Verführer, ein Diplomat, ein Gefangener, ein Pierrot beim Karneval. Der stete Wechsel zwischen den Ebenen, die scheinbare Leichtigkeit, mit der Casanova von einer gesellschaftlichen Schicht in die nächste wechselte, erinnern nicht von ungefähr an die Welt des Theaters: das Leben - ein Spiel mit Rollen und Konventionen.

Tatsächlich sind die unzähligen Affären, die Giacomo Casanova überall und zu jeder Zeit unterhielt, nicht romantischer Natur. Doch Romantik und Innigkeit waren nie sein Ziel. Er erweist sich auch hier eher als Genießer und Spieler, durch und durch ein Charakter des Rokoko, dem bürgerliche Tugenden, lebenslange Bindung und Kontinuität mehr als fern lagen. Auch wenn es Frauen gab, die ihm näher standen, so hielt ihn dies keineswegs davon ab, immer neue Eroberungen zu wagen. Dabei legte Casanova, der über die Namen seiner Geliebten den Mantel des Schweigens deckt, ein ausgesprochen ritterliches Verhalten an den Tag. Viele der einflußreichen Frauen, die er traf, hielten ihm über lange Zeit die Freundschaft. Im Schutz ihrer Protektion und aufgrund ihrer Empfehlung gelang ihm der Aufstieg in die gesellschaftlichen und ökonomischen Eliten seiner Zeit, quer durch ganz Europa. Nichts lag ihm daher ferner als die ihm so oft unterstellte Frauenverachtung.

Als weitgereister und gesellschaftlich sehr erfolgreicher Mann kannte er Ludwig XV., Friedrich II. von Preußen und Zarin Katharina II. persönlich. Er pflegte in Rom enge Freundschaft mit dem Maler Anton Raphael Mengs und dem Kunsttheoretiker und Altertumsforscher Winckelmann. Er unterhielt Päpste und Kardinäle mit seinen glänzenden Reden. Neben diesen historischen Größen bereichern unzählige prägnante Charakterstudien von Kurtisanen, Schauspielerinnen, Mönchen und einfachen Gestalten die Szenerie der Memoiren: Es entsteht ein eindrucksvolles Tiefenbild der europäischen Welt kurz vor der Französischen Revolution aus der Sicht eines kosmopolitischen Wanderers zwischen den Welten und Ständen.

Die von Burkhard Brunn zusammengestellte Textsammlung legt besonderen Wert auf die Darstellung dieser schier unerschöpflichen Vielfalt. In den Fußnoten werden wichtige Hinweise zu einzelnen Personen und historischen Hintergründen gegeben, diese erleichtern damit dem nicht mit der Materie vertrauten Leser die Lektüre. Sie verbinden die Memoiren außerdem mit den neuesten Forschungsergebnissen zum historischen Casanova und stellen so eine echte Bereicherung dar. Unvermeidlich sind die Brüche zwischen den einzelnen Episoden. Es wurde dem Leser jedoch in jeder Hinsicht leicht gemacht, dem Fluß der Erzählung zu folgen.

Burkhard Brunn beschreibt Casanova im Nachwort als Liebhaber, Abenteurer, Zeitzeuge und Vorläufer eines sozialen Typs. Möglicherweise erlebt dieser mobile und improvisationsfreudige Typus tatsächlich in der heutigen, postmodernen Zeit ein Comeback, möglicherweise ist der Einblick in diese 200 Jahre alte Geschichte deshalb so atemberaubend und gegenwärtig. Sicher aber ist es auch der ungebrochene Optimismus und der Lebenshunger, der den Leser in seinen Bann nimmt und ihn schließlich selbst an Casanovas Worte glauben läßt: „Leben und Spielen waren dasselbe.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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