Eine Annotation von Melissa Buschmann


Vine, Barbara

Schwefelhochzeit

Roman. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann.

Diogenes Verlag, Zürich 1997, 440 S.

 

Barbara Vine alias Ruth Rendell, Englands derzeitige Queen of Crime, ist längst auch hierzulande zum Synonym für anspruchsvolle Kriminalliteratur geworden. Zusammen mit Dorothy L. Sayers, Agatha Christie, P. D. James und Patricia Highsmith zählt sie zu den bedeutendsten Kriminalschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Die Rendell ist eine Meisterin des realistischen, psychologisch motivierten Kriminalromans und zum Glück für die Bewunderer ihrer mörderischen Phantasie und literarischen Begabung von nimmermüder Fabulierfreudigkeit. Schon wieder hat sie einen neuen Roman vorgelegt - es könnte der achtunddreißigste, vierzigste oder gar schon zweiundvierzigste (?) sein -, auf jeden Fall ist es der achte, den sie unter dem Pseudonym Barbara Vine bei Diogenes veröffentlicht hat.

Schwefelhochzeit ist eine leise, atmosphärisch dicht erzählte Geschichte über Liebe, Lust und Leidenschaft, über Konventionen, Ausbruch und Moral, über trügerisches Glück, schicksalhaftes Verhängnis und die Vergänglichkeit des Lebens.

Als Barbara Vine bevorzugt Ruth Rendell die Ich-Erzählform, um, wie in Schwefelhochzeit, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, auf raffiniert verschlungenen und verwobenen Handlungswegen Geheimnisse der Vergangenheit und Gegenwart zu enthüllen, die das Leben der beiden Ich-Erzählerinnen, zwei Frauen, die unterschiedlicher kaum sein können, überschatten und sie einander näherbringen.

Schauplatz des Geschehens ist eine „Seniorenresidenz“ in ländlichem Gefilde. Dort verbringt Stella, eine unheilbar kranke alte Dame, die letzten Monate ihres Lebens, liebevoll und mit Respekt umsorgt von der jungen Pflegerin Jenny. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern von Middleton Hall ist Stella eine elegante, gepflegte Erscheinung und geistig „noch voll da“. Die Gegenwart, das vor allem ist das Gesprächsthema zwischen den beiden Frauen. Über ihre Vergangenheit aber breitet Stella den Mantel des Schweigens. Jenny, sensibilisiert für Geheimnisse, weil sie selbst eines hütet, ahnt, daß Stella etwas zu verbergen hat. Warum fürchtet sie sich so sehr vor dem Autofahren? Warum behält sie ein Haus, das sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr betreten hat und von dessen Existenz selbst ihre Kinder nichts wissen? Als Jenny in dem Haus nach dem Rechten sieht, stößt sie auf Spuren, die vermuten lassen, daß sich dort ein Drama abgespielt hat.

Jahrelang waren die Geheimnisse ihres Lebens in Stellas Kopf eingeschlossen und dort flüsternd und ungehört herumgegeistert. Als die Anzeichen sich mehren, daß ihre Lebensuhr bald abgelaufen ist, schießen die Erinnerungen der Vergangenheit wie gestautes Wasser in einem breiten Strom heraus. Und Jenny ist eine geduldige und verständnisvolle Zuhörerin. Doch der Tod ereilt Stella, noch bevor sie mit ihrer Lebensbeichte zu einem Ende gekommen ist. Hat sie ihr dunkles Geheimnis nun doch mit ins Grab genommen?

Wie bei fast allen Geschichten dieses Genres resultiert die Wirkung von Schwefelhochzeit zu einem Gutteil aus dem Gespanntsein auf das Finale, das zwar nicht sehr zu überraschen vermag, aber den Rückblick auf die bedrohlichen Ereignisse der Vergangenheit psychologisch stimmig abrundet. Vine/Rendell beherrscht virtuos die Kunst der spannungssteigernden umschweifigen Erzählweise; so verschlungen sie die Handlung auch webt, nie verliert sie den roten Faden, der zur Lösung des Rätsels führt. Mit suggestiver Verführungskraft zieht sie den Leser in die teils düstere, teils beschauliche Geschichte hinein, deren Sog sich insbesondere aus den faszinierenden Figurenporträts der beiden Frauen und der Spiegelung von alltäglicher Lebenswirklichkeit und emotionalen Verstrickungen speist. Dieser spannende und zugleich anrührende Roman zeigt die Rendell einmal mehr als eine Schriftstellerin mit kaum zu übertreffendem Einfühlungsvermögen in komplexe Seelenzustände ihrer Figuren.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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