Eine Annotation von Gerhard Keiderling


Reutlinger, Kajo:

... und trotzdem leben wir. Als Reporter im Nachkriegsberlin überall dabei

Eine Berliner Chronik zur Erinnerung für die Alten, die dabei waren, und die Jungen, die sich’s kaum vorstellen können.

Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin 1997, 270 S.

 

Wie viele andere seines Jahrganges kehrte auch Karl-Joachim Reutlinger Ende Mai 1945 auf abenteuerliche Weise in seine Heimatstadt Berlin zurück. Die Zeitung „Der Berliner“, die als „Nachrichtenblatt der Britischen Militärbehörde“ zum erstenmal am 2.August 1945 erschien, stellte ihn als Lokalreporter ein. Die Viersektorenstadt bot ein in jeder Hinsicht schier unerschöpfliches Reservoir an berichtenswerten Themen: Zerstörung und Wiederaufbau, Besatzungs- und Kommunalpolitik, der tägliche Kampf ums Überleben inmitten der Ruinen, an dem manche fast verzweifelten, und die wenigen Lichtblicke, an denen andere sich aufzurichten vermochten. „Wenn wir nicht an bessere Zeiten glauben würden, könnten wir die Arbeit hinschmeißen.“ (S. 188)

„Kajo“ - unter diesem Kürzel schrieb Reutlinger seine Berichte - war als waschechter Berliner immer „mittenmang“. Er stieg in ein Boot, das im September 1945 den von der SS bei Kriegsende gefluteten Tunnel der Nord-Süd-S-Bahn befuhr, und zwängte sich in einen schweren Taucheranzug, um im trüben Spreewasser die Männer zu beobachten, die Reste der gesprengten Jannowitzbrücke aus der Fahrrinne herausholten. Er beobachtete die Holzköhler im Grunewald, mischte sich in das Geschiebe auf dem Schwarzmarkt am Reichstag und Alexanderplatz und schlenderte über den ersten Nachkriegsweihnachtsmarkt im Lustgarten. „Kajo“ war auch dabei, als sich die Theatervorhänge wieder hoben, als Marlene Dietrich im Oktober 1945 „in der Uniform der US-Luftlandetruppen und ordensgeschmückt“ (S. 43) vor GIs im Titania-Palast sang, und er schaute Wolfgang Staudte über die Schulter, als er mit der noch unbekannten Hildegard Knef eine Szene für „Die Mörder sind unter uns“ drehte.

Am 30.April 1946 stellte „Der Berliner“ sein Erscheinen ein. Reutlinger wechselte zu dem im März 1946 von Arno Scholz gegründeten „Telegraf“ über. Mit einem klapprigen Motorrad war er der jüngste „rasende Reporter“ zwischen Havel und Spree. Die Geschehnisse, über die er in der Folge berichtete, waren nicht minder aufregend: Heimkehr der ersten deutschen Kriegsgefangenen, der schreckliche Kältewinter von 1947, das Oder-Hochwasser im März 1947, die Sprengung des Zoobunkers, die Trümmerbahn und als „Dauerbrenner“ die leidige Ernährungsfrage.

Reutlinger legt uns all das nicht in trockener Tagebuchform oder als Nachdruck seiner Lokalartikel vor, sondern präsentiert es - gestützt auf seine Unterlagen und mit Fotos angereichert - in lebendig nacherzählter Weise. Das macht das Buch so liebens- und lesenswert. Wer indes die „große Politik“ in der Viersektorenstadt sucht - parteipolitische Auseinandersetzungen, Blockade, Luftbrücke u. a. m. - , wird dazu wenig finden. Aber das waren ja auch Themen, die damals nicht auf der Lokalseite standen, sondern die Schlagzeilen füllten.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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