Eine Rezension von Bernd Heimberger

Anwesend abwesend

Jürgen Serke: Zuhause im Exil

Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR.

Piper Verlag, München 1998, 475 S.

 

Das Grab der Dichterin Inge Müller, eine der wichtigsten deutschsprachigen Dichterinnen des Nachkriegs, verfiel und wurde eingeebnet. Die Liquidierung des Grabes droht auch dem 1969 36jährig verstorbenen Lyriker Uwe Greßmann. Müller und Greßmann lebten und starben in Berlin, wo sie bestattet wurden. Sie waren Bürger der DDR. Ihre Dichtung war keine DDR-Dichtung. Es war deutsche Dichtung: in der DDR geschrieben. Dichtung, die ihre Zukunft in der deutschen Literatur hat, sofern künftig in Deutschland auf Literatur geachtet wird.

Um der allgemeinen Achtsamkeit auf die Sprünge zu helfen, hat sich Jürgen Serke erneut aufgemacht, verschollene, fast vergessene, an den Rand gedrängte deutsche Autoren aufzuspüren. Der Verfasser der verdienstvollen Bücher Die verbrannten Dichter und Die verbannten Dichter kümmerte sich um „Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR“. Das heißt um Schriftsteller, die Zuhause im Exil waren. Serke setzt einen Selbstvorwurf außer Kraft, der in den siebziger Jahren in der Volker-Braun-Generation laut wurde, die sich eine Generation ohne Biographie nannte. Eine Generation ohne die Erfahrungen der Arbeiterklasse, des Antifaschismus, des Ausgebürgertseins. Die 15 Autoren, über die Serke spricht, hatten, haben genug Biographie. Bittere bis bitterste Biographie. Wie Inge Müller, die drei Tage in einem Berliner Keller verschüttet war. Das dramatischtragische Schicksal Müllers leitet den Band ein, der mit der Lebensgeschichte des Leipzigers Horst Drescher abgeschlossen wird. Vier der Vorgestellten bestimmten ihre Todesstunde selbst. Harych, Müller, Streubel, Ulrich. Deutsche Realität richtete sie zugrunde. Serkes Buch ist ein Buch des Erinnerns wechselnder Lebens-, Zeit-, Literaturgeschichte. Acht der Porträtierten leben nicht mehr. Ist Serkes Buch eine Rettungsaktion - auch Ehrenrettung - von Autoren, die „am Rand des SED-Staates, aber mitten in der Gesellschaft“ existierten? Auch! Denn mit ihrer Lebensart und Literatur wiesen die Randfiguren ins Zentrum der Gesellschaft, die den unter die Fahne des Sozialismus kehrte, der die Fahne nicht grüßte. Nicht mehr grüßte!

Jürgen Serke, der sich gelegentlich gern zu feuilletonistisch aufgeblähten Schlußfolgerungen hinreißen läßt, schreibt: „Uwe Greßmann hat das mörderische Tollhaus DDR beschrieben.“ Ein Tollhaus, in dem das Heimkind, der Kranke, der Unzugängliche schließlich doch eine eigene Wohnung, eine Rente, einen Gedichtband bekam. Wie mörderisch war die DDR im Mörderischen, wie doktrinär im Doktrinären, wie intolerant in der Intoleranz? Von Person zu Person listet Serke Bedrängungen, Behinderungen, Beeinträchtigungen auf. Kleine wie klägliche Kompromisse der Bedrängten, Behinderten, Beeinträchtigten gerieten in der Betrachtung der „Randfiguren“ an den Rand. Dem Verfasser ist wichtig, deutlich zu machen, wie eindeutig DDR-Abwesenheit in der DDR-Abwesenheit werden konnte. Die beste Bestätigung lieferte der Theatermann Peter Sodann, der über den Freund und Dramatiker Alfred Matusche sagte: „Er war eigentlich nie in der DDR gewesen.“ Letztendlich hat die DDR keinen der 15 Autoren gekriegt. Ob einer von ihnen in Deutschland ankommt? Wird schon der Tragödie zweiter Teil gespielt? Es hat nicht nur den Anschein!

Jürgen Serke möchte auf gar keinen Fall mit der „Lagermentalität“ operieren, die nach 1989 die Bewertung und Beurteilung der Literatur aus der DDR bestimmte. Dennoch vereinfacht auch der polemische Publizist, wenn er sanktioniert: „Wer Schriftsteller werden konnte, bestimmte in der DDR die SED.“ Der Satz könnte einem Schüler der 11. Klasse als Schönheitsfehler angekreidet werden. Aber Serke? Sich der Unvollständigkeit seiner Autoren-Ansammlung bewußt, fehlen in der Runde vor allem Bobrowski und Fühmann. Ihre Biographien widerlegen Serkes polemische Notiz ebenso wie die der von ihm Ausgewählten. Wer Schriftsteller ist, bestimmt der, der schreibt! Dieser Selbstbestimmung gemäß agierte der äußerste Rand des Randes. Die Szene des Prenzlauer Bergs. Ein weiterer Sektor in der Literatur der DDR, die bei weitem lebhafter, bewegter, bunter war, als selbst DDR-landläufig bekannt. Mit Jürgen Serkes Buch wird mehr von der Literatur, von der Literaturlandschaft der DDR bekannt gemacht. Eine blühende Landschaft? Allen Stürmen, allen Dürren, allen Eises zum Trotz?

Gelassen, gar gleichmütig und gleichgültig sind nur wenige Porträts zu lesen. Verständnis für Verletzungen, fürs Verletztsein, fürs Verletzen bestimmen Serkes Texte ebenso wie seine Sucht, mit Fakten zu beeindrucken und zu überzeugen. Die Faktenfülle führt zu Wiederholungen. Sie läßt Zweifel an der Korrektheit auftauchen, wenn Namen - Curt Querner - eine neue Schreibweise bekommen, die „Gedenkstätte der Sozialisten“ in Berlin-Friedrichsfelde zur Erfindung der DDR wird, die „Märkische Union“ zur „Märkischen Zeitung“, Ulbrichts Ablösung auf das Jahr 1970 vorverlegt wird und behauptet, daß es für Kurt Drawerts Debüt-Band nur Ablehnung gab ...

Jürgen Serke weiß über das Leben in der DDR, das Leben von Literaten in der DDR mehr als viele, die sich selbstsicher äußerten. Sagen soll Serke, was er weiß. Ohne Anspruch der absoluten Wahrheit, den die DDR unsinnigerweise für sich reklamierte.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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