Eine Rezension von Gabriele Reinhold

Irrungen und Wirrungen

Thomas Hardy: Woodlanders

Roman.

Aus dem Englischen von Ana Maria Brock.

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 446 S.

 

Als Romane des „Charakters und der Umgebung“ hat der erfolgreiche englische Romancier, Lyriker und Dramatiker Thomas Hardy (1840-1928) die bedeutendsten seiner vierzehn Romane wie Der Bürgermeister von Casterbridge, Tess von D’Urbervilles oder Herzen in Aufruhr selbst klassifiziert, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er dabei auch an Woodlanders gedacht hat, wenngleich der in heutigen Schriftsteller- und Literaturlexika lediglich unter der Rubrik „Weitere Werke“ Erwähnung findet.

Woodlanders erzählt eine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielende melodramatische Liebesgeschichte, in der die schöne, gebildete Heldin in einen sich tragisch zuspitzenden Zwiespalt zwischen zwei von Charakter und sozialer Herkunft sehr unterschiedlichen Männern gerät. Hardy thematisiert hier insbesondere den Konflikt zwischen „aufopferungsvoller Liebe und unbesonnener Leidenschaft“ und den Gegensatz zwischen „ländlichen Traditionen und städtischem Fortschritt“, verbunden mit dem Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg - Themen, die er variiert mehrfach literarisch behandelt hat.

Das Geschehen ist in einer aus Fiktion und Realität geschaffenen Landschaft im Südwesten Englands angesiedelt, in einem von pittoresken Waldungen dominierten ländlichen Gefilde, das atmosphärisch dicht und mit poesievoller Frische ins Bild gesetzt ist und so einem allzu schwerblütigen Handlungsverlauf entgegenwirkt, wenngleich in dieser Geschichte wie in den meisten Werken des Autors dunkle „Vorsehungen“ walten und auf die Ereignisse einen nicht unerheblichen Einfluß nehmen.

„Es war einer jener abgeschiedenen Flecken außerhalb der Tore der Welt, wo man gewöhnlich mehr Neigung zum Nachdenken als zum Handeln und mehr Hang zur Teilnahmslosigkeit als zum Nachdenken findet; wo man von sehr beschränkten Voraussetzungen aus urteilt und zu wild phantastischen Schlußfolgerungen gelangt; doch wo sich von Zeit zu Zeit Dramen von einer wahrhaftig sophokleischen Größe und Geschlossenheit in der Wirklichkeit abspielen, kraft der geballten Leidenschaft und der engen gegenseitigen Abhängigkeit der dort Lebenden.“

Hier, in dem Dorf Little Hintock, lebt der alte Melbury, ein wohlhabender, rechtschaffener Holzhändler von vertrauenerweckender Aufrichtigkeit. Er ist die das Geschehen beherrschende, lenkende Gestalt, neben seiner schönen Tochter Grace, die er abgöttisch liebt. Nichts ist ihm zu gut und zu teuer für sie, um ihr eine „edle Fassung“ zu geben. So schickt er sie auf eine Schule in der Stadt, um ihr eine gute Ausbildung angedeihen zu lassen. Danach soll sie den Sohn des Mannes heiraten, an dem er etwas wiedergutmachen will. Doch nach ihrer Heimkehr reut es Melbury, daß er sie dem einfachen Obstbauern Giles Winterbourne versprochen hat: „Aber wo ich sie doch so gut und so lange und so weit über dem Niveau der Töchter hier ringsum habe ausbilden lassen, bedeutet es doch Verschwendung, sie einem Mann zu geben, der nicht von höherem Stand ist als er.“ In dem Widerstreit zwischen seinen moralischen Grundsätzen und dem Wunsch nach mehr gesellschaftlicher Ehre gewinnt sein Ehrgeiz schließlich die Oberhand, und er manövriert Grace, bevor sie sich über ihre Gefühle für Giles klar werden kann, in die Ehe mit dem vor kurzem zugezogenen Doktor Fitzpiers. Dieser ist zwar adliger Herkunft und unwiderstehlich attraktiv, nur ein Mann von Charakter wie Giles, das ist er nicht. Die überstürzte, unbedachte Eheschließung bringt im Verein mit Hardys üblichen schicksalhaften Zufällen nichts als Unglück über die Beteiligten: Der beiderseitigen Desillusionierung des Paares folgt schon bald die Trennung. Fitzpiers, der durch die Verbindung mit der Tochter eines Landmannes den „Respekt eines höheren Wesens aristokratischer Abstammung“ verloren zu haben glaubt, stürzt sich in ein leidenschaftliches Verhältnis mit der schönen und natürlich blaublütigen Herrin von Little Hintock, in der Hoffnung, seine übereilte Entscheidung für Grace korrigieren zu können; Melburys „Wiedergutmachungspläne“ für Giles und Grace scheitern sowohl an den Gesetzen als auch an der Macht des Schicksals - Grace weiß inzwischen die geduldige, stille, innige Liebe des Apfelbauers zu schätzen, doch eine Auflösung ihrer Ehe läßt sich rechtlich nicht realisieren, und Giles stirbt eine Art „Opfertod“; die Geliebte des Doktors wird zu allem Übel von einem eifersüchtigen Verehrer ermordet. Fitzpiers macht schließlich in aller Stille eine „Katharsis“ durch, aus der er erstaunlich demütig hervorgeht. Und Grace, die gleichermaßen selbstbewußte und gereifte wie edle Heldin, nimmt ihn, nachdem er beharrlich um sie gebuhlt hat, wieder bei sich auf, bis daß der Tod sie scheidet.

Hardy legt seine Romanwelt breit an. Eingebunden in den Verlauf von zweieinhalb Jahren, vollzieht sich das aus der Perspektive des allwissenden Erzählers dargebotene Geschehen um unerfüllte Wünsche, zerstörte Hoffnungen, unglückliche Lieben und Tode ohne Eile. Der Autor läßt keine Möglichkeit aus, die Landschaft im jahreszeitlichen Wechsel als Bezugspunkt der Ereignisse - als Spiegelbild der seelischen Verfassung seiner Figuren - detailmalerisch weitschweifig zu beschreiben. Nach der Maxime „Keine Bewegung ohne Beweggrund“ spürt er intensiv und erzählerisch aufwendig den Denk- und Verhaltensweisen seiner Romangestalten nach und legt mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen in die Kompliziertheit der menschlichen Natur und bei aller Tragik der Ereignisse nicht ohne Humor den Blick frei für das, was sich hinter der Fassade menschlichen Seins verbirgt, darauf bedacht, daß Wesensart und soziales Umfeld der Personen miteinander korrespondieren, wobei er außerordentlich freigebig mit philosophischen und didaktischen Kommentaren umgeht. Er schildert den Alltag der Menschen dort, ihre Sitten und Bräuche, gibt Einblicke in ihr - weitgehend harmonisches - Zusammenleben, schaut in ihre Seelen, teilt ihre Träume und Sehnsüchte mit und entwirft dabei, obwohl er existentielle Not nicht ausspart, ein fast idyllisches Bild vom ländlichen Leben. Der Roman versperrt sich einer raschen Lektüre. Der umschweifige, beschauliche Erzählduktus läßt dem Leser Raum zum Verweilen, Muße zum Nachdenken und Wahrnehmen von Details. Andererseits keimt während des Lesens der mit ungebremster Fabulierlust dargebotenen Begebenheiten gelegentlich der Wunsch auf, dem englischen Meister der epischen Breite wäre beim Erzählen der nachfolgende und von keinem Geringeren als dem deutschen Dichterfürsten Goethe stammende poetische Grundsatz gegenwärtig gewesen: „Dies ist ein Fehler, in den man so leicht verfällt, daß man sich in elegischen Empfindungen ausbreitet, daß man sich mit Beschreibungen und Gleichnissen aufhält, die doch eigentlich der Tod des Dramas sind, welches doch allein nach seiner fortgehenden Handlung geschätzt werden kann ...“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite