Eine Rezension von Renate Heß

Erinnerungen

Jurij Brezan: Mein Stück Zeit

Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 1998, 298 S.

 

Jurij Brezan, der sorbisch und deutsch schreibt, lebt, wo er geboren ist, in Räckelwitz in der Lausitz, am Rande seines Heimatdorfes, in einem Haus, das von einem wilden Garten und von Wald umgeben ist. Er ist bodenständig und lebt, wie er gelebt hat, und schreibt, wie er geschrieben hat. Er behauptet, er ist kein anderer, die Welt ist eine andere. 1987/1988 hat er dieses autobiographische Buch, das die Kindheit und die ersten Jahre nach dem Krieg umfaßt, geschrieben. Darin äußert er sich zu der Frage, die gegenwärtig viele Menschen bewegt, wie gehe ich mit meiner Vergangenheit um. Er hat aufgeschrieben, was er erlebt hat, was von dem, was ihm lieb war, geblieben ist, was aus seinen Träumen, Hoffnungen und Idealen geworden ist. Dabei betont er, daß es keine Bewältigung der Vergangenheit gibt, daß das Wort Vergangenheitsbewältigung ein dummes und schlechtes Wort ist. Vergangenes ist vorbei, daran kann man nichts mehr ändern, nichts wiedergutmachen. Was geschehen ist, ist geschehen, dafür muß man geradestehen. Die eigene Geschichte ohne Ausflucht gänzlich als die eigene anzunehmen, daran hat er sich immer gehalten. Brezan beginnt mit der Schilderung seiner Kindheit. Er erinnert sich gerne daran. Er erzählt spannend, eine Geschichte reiht sich an die andere.

Er hatte einen Großvater, der immer Rat wußte. Mit großer Achtung schreibt er über seinen Vater, seine Mutter war eine gehetzte Magd für Vieh, Feld, Haus und Hof. Schon früh stellte er die Frage, warum die Deutschen nicht verkraften, daß es eine Minderheit Menschen mit sorbischer Sprache und Identität gibt. Er versuchte, hinter die Dinge zu schauen, und fragte, wie soll man sich verhalten? Soll man still sein und sich unterordnen oder soll man sich wehren? Offen berichtet er darüber, was ihm während des Faschismus abverlangt wurde, als sorbisches Leben verboten war, als das Vermögen sorbischer Vereine beschlagnahmt wurde. Weil er festhielt an den Traditionen seines Volkes, galt er als politisch unreif und wurde daher nicht zum Abitur zugelassen.

Es ist erstaunlich, daß er schon mit 19 erkannte, daß die Nazis verbrämtes Barbarentum als neue Lebensform erzwingen wollten, daß sie die Sorben vernichten wollten. Die Sorben waren die Indianer Mitteleuropas. Eine Mitschülerin wurde gejagt, damit begann es für ihn. Weil er ein selbstbewußter Sorbe war, wurde er festgenommen, als er im Studentenseminar war. Einem kleinen Volk anzugehören, hatte seine eigenen Gesetze. 1933 schloß er sich einer sorbischen Widerstandsgruppe an. Sich zu erinnern, empfindet er oft als schmerzhaft, und was im Gedächtnis haften bleibt, ist zufällig. Wichtiges und Bedeutsames ist in einen Abgrund gefallen, aus dem er es nicht mehr heraufholen kann.

Wenn man die Geschichten liest, kann man vermuten, Brezan schildere Gegenwärtiges, so aktuell ist manches, zum Beispiel, daß die Kohle den Acker, die Wiesen, die Trachten, die Lieder und die Sprache frißt.

Ihm ist ein fesselndes Buch gelungen. Humorvoll, oft lakonisch schildert er, wie er die Zeit als Soldat und die Gefangenschaft hinter sich brachte. Er läßt sich nicht unterkriegen. Indem er seine Möglichkeiten erwog, sich nicht ins Bockshorn jagen ließ, überlebte er. Dabei half ihm, daß er sich an sein Ziel erinnerte, er wollte wie Heinrich Heine ein Weltbürger werden, sich Wissen und Kunst aneignen, und er wollte, daß sich Menschlichkeit und Vernunft durchsetzen. Er glaubte daran, daß das Leben sich nicht aufgibt, solange es Leben ist, und daß das Gewissen die höchste Instanz eines jeden Menschen ist. Mit diesen Prämissen schaffte er es durchzukommen. Von sich sagt er jedoch auch, daß er ein Leben lang sich selber immer wieder auf den Leim gekrochen ist. Die poetische und bildhafte Sprache trägt viel zum Lesevergnügen bei. Beethoven ist für ihn ein „Steak für die Seele“.

Drei Jahre Studium an der Hochschule für Weltwirtschaft in London wurden ihm versprochen. Doch die Wirklichkeit war anders. Er mußte in Untersuchungshaft. Im Erinnern an diese Zeit denkt er, daß er sich ziemlich heldenhaft aufgeführt hat. Eher zurückhaltend erinnert er sich an erste Lieben, an Liebesbriefe, die er schrieb. In vielen Fällen erwieß er sich als guter Menschenkenner. Er beschreibt die Heiler und Heuler, diejenigen, die auch das Positive sahen, die Gleichgültigen und die, die sich für Fast-Widerständler hielten. Besonders verabscheute er Haushunde, die mit den Wölfen heulten. Er beschreibt, was ihn erfreute, was ihm mißfiel. Menschen zum Beispiel, die sich jovial verhielten, provozierten seine zornige Abwehr. Aus allem, was er schildert, ist Aufrichtigkeit und Liebe zu spüren. Um in die Zeit nach dem Krieg mehr hinüberzuretten als das nackte Leben, schrieb er Sonette. Leider vernichtete sie ein Bäcker, bei dem Brezan die Manuskripte zur Aufbewahrung zurücklassen mußte, weil er sie nur für beschriebenes Papier hielt. Damit waren sie für immer verloren. Immer wieder hoffte Brezan, all seine Zeit für sein Schreiben zu haben. An der Front, in den letzten Tagen des Krieges, begann er einen Roman zu schreiben und las auch daraus vor. Um die Gegenwart wegzuzaubern, schrieb er über Vergangenes.

Er wurde Nachrichtensoldat und durfte keine Waffe in die Hand nehmen und war froh darüber. Er vertrat die Auffassung, daß die beste Verteidigung der eigene Kopf und nicht der Revolver ist. Vier Jahre mußte er Soldat sein. Über diese Zeit schreibt er, daß nirgends auf der Welt so sonderbare Dinge geschahen wie beim Militär. Wie ein Frosch hockte er auf einem General in einem Erdloch, um sich bei einem Luftangriff zu schützen. Man brauchte Erfahrung auf der Schutthalde des Krieges, um zu überleben. Er fand einen Freund, Bernhard Heerdegen, beide träumten davon, wie Deutschland anders und neu beschaffen sein sollte. Der Bauer Lorenz versteckte Brezan im Heu und rettete ihm das Leben. Was er in den letzten Kriegstagen erlebte, mutet abenteuerlich an. Das Wort Serbian erwies sich als gutes Losungswort, um manche Absperrung zu überwinden. Manches war damals anders, als es in den Büchern zu lesen ist. In vielen Situationen stand er über den Dingen, als er sich einmal übertölpeln ließ, wurde er furchtbar wütend auf sich. In Regensburg, wohin er verschlagen wurde, wurde ihm angeboten, für die Amerikaner zu arbeiten. Er lehnte ab. Zweifel quälten ihn, ob er richtig entschieden hatte, daß er schreibt, und ob das, was er schreibt, Sinn macht. Ein Mitgefangener behauptete eines Tages, daß er in Räckelwitz gewesen sei und keinen aus der Familie Brezans mehr angetroffen hätte. Er glaubte es und erfuhr erst viel später, daß es nicht wahr war. Wie schon einmal, wurde ihm von der Besatzungsmacht, dieses Mal in Altena, eine Chance für den Neubeginn angeboten. Er sollte Direktor der Industrie- und Handelskammer werden, die noch gar nicht existierte. Er blieb Gefangener, als er ablehnte. Auch das Angebot, eine Braut und einen einflußreichen Schwiegervater zu bekommen, nahm er nicht an.

Er erinnert sich an seine Freunde. Der eine nahm sich das Leben, als Deutschland Mitglied der NATO wurde. Der andere hatte nicht gelernt, mit den Feindseligkeiten aus den eigenen Reihen zu leben.

1944 wußte Brezan nicht, ob er sich wünschte, daß die Russen ins Land kommen. Als der Krieg zu Ende war und er zurückkehrte, kam ihm sein Land unbekannt und fremd vor. Brezan schreibt darüber, was er von Stalin hielt. Er nahm an, daß dieser nicht einen Finger rühren würde für ein kleines sorbisches Volk. Er schildert, wie er sich schwer tat, sich zu finden und das herauszufinden, was er tun wollte. Er war einer, der auf die neue Zeit wartete und nicht wußte, wie sie aussehen sollte. Seine Freunde wurden schon ungeduldig. Das Buch enthält rätselhafte Anspielungen, und nicht alles wird sich dem Leser erschließen. Brezan entscheidet sich dafür, in seiner sorbischen Heimat zu bleiben. Die zwei Jahre nach dem Krieg waren für ihn die schönste Zeit seines Lebens. Er wurde Jugendfunktionär und lernte seine Frau kennen

Nie ist sein Erinnern kühl und unbeteiligt, weil er niemals unbeteiligt blieb.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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