Eine Rezension von Grace Maier

Phantasie contra Ratio

Massimo Bontempelli: Sohn zweier Mütter

Roman.

Aus dem Italienischen von Erika Cristiani.

Steidl Verlag, Göttingen 1998, 192 S.

 

Am Ende der Lektüre dieses Romans kam mir Shakespeares Hamlet in den Sinn. Für die Einstimmung auf eine von einem Hauch des Geheimnisvollen und Irrationalen umgebene Geschichte bietet es sich an, den Dänenprinzen zu zitieren: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio ...“, resümiert dieser, nachdem er dem Geist seines Vaters begegnet ist. Und von ähnlichen Erfahrungen werden die beiden Protagonistinnen aus Sohn zweier Mütter nach dem erklärten Willen Bontempellis in Atem gehalten. „Realismo magico“ - so nämlich heißt sein Credo, das er u. a. mit diesem Roman über das Phänomen einer Reinkarnation interpretiert.

Massimo Bontempelli (1878-1960) hat neben Pirandello die moderne italienische Literatur in den zwanziger Jahren geprägt, indem er gegen den Realismus und Naturalismus des etablierten 19. Jahrhunderts, „des Jahrhunderts des bürgerlichen Geschmacks“, die Literatur thematisch und technisch zu erneuern sich bemühte - durch einen magischen Realismus, der übernatürliche, phantastische Ingredienzien und Begebenheiten, die an sich der Gattung des Märchens und der Mythologie angehören, wie selbstverständlich und so, daß sie den Anschein des Wirklichen und Wahrscheinlichen haben, in eine realistisch geschilderte Alltagswelt integriert.

„Das Magische, Surreale im täglichen Leben der Menschen und Dinge zu entdecken, den Sinn des Geheimnisvollen und das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde wieder neu zu finden ...“ - dieses Programm für den „realismo magico“ hat Bontempelli in dem eigenwillig komponierten okkulten Roman Sohn zweier Mütter auf überraschende Weise in Szene gesetzt.

Man schreibt das Jahr 1900. „Der Fall Mario Parigi“ macht in Rom und ganz Italien Schlagzeilen und löst unter der Bevölkerung große Anteilnahme aus. Zwei Mütter erheben vor Gericht Anspruch auf einen Knaben, den beide über alle Maßen lieben und von dem beide behaupten, daß er ihr Sohn sei. Dem vorausgegangen ist ein wundersames, teils befremdliches und komisches, teils beklemmendes Geschehen - eine Reinkarnation -, das einerseits einem Märchen gleicht, andererseits als eine Art Chronik der Ereignisse so erzählt wird, als ob durchaus wahr sein könnte, was doch eigentlich nicht wahr sein kann.

Die erstaunliche Geschichte nimmt ihren Anfang „bei strahlendem Sonnenschein in der fröhlichen Stimmung eines Frühlingstages“ und in dem gutbürgerlichen Ambiente einer ganz normalen römischen Familie. Unvermittelt jedoch gerät die Ordnung ihres harmonischen Zusammenlebens durch einen außergewöhnlichen Zwischenfall aus den Fugen. Mario, der Sohn von Mariano und Arianna Parigi, erlebt ohne jede Vorankündigung, aus buchstäblich heiterem Himmel sozusagen, an seinem siebenten Geburtstag eine „Wiedergeburt“. Er ist unerschütterlich davon überzeugt, nicht der Sohn der Parigis zu sein, sondern der von Luciana Stirner, deren Ramiro am selben Tag starb, an dem Mario geboren wurde. Damals zog sich Luciana in ein kleines Dorf auf dem mythenumwobenen Kap der Zauberin Circe zurück, um sich fortan dem Anblick des Monte Circeo hinzugeben. Von dem Gipfel des Felsens hatte sich ihr Geliebter, der Vater Ramiros, ins Meer gestürzt, nachdem ihr kurzlebiges fast unirdisches Glück von „wütenden Streitigkeiten und furiosen Versöhnungen“ zunehmend überschattet worden war.

Mit dem mythisch und mystisch gefärbten Background erscheint Luciana für Übersinnliches insbesondere sensibilisiert und auf das Wunder einer Reinkarnation weit besser vorbereitet als Arianna, die als Ehe-, Hausfrau und Mutter in ein geordnetes und weitgehend genormtes Leben eingebunden ist. Marios Verhalten - er bewegt sich in dem Umfeld, in dem Luciana mit ihrem Sohn bis zu dessen Tod lebte, als wäre er nie woanders zu Hause gewesen - stellt für Arianna „einen unüberwindlichen Abgrund, ein unlösbares Rätsel“ dar. Luciana hingegen, die durch Ariannas Hilferuf aus einem wie erstarrten Dasein „erlöst“ wird, gleichsam durch die „Auferstehung“ ihres Sohnes selbst eine Wiedergeburt erlebt, zögert nicht einen Augenblick, das Wunder zu akzeptieren. „Wahr oder nicht wahr, was bedeutet das schon? Jetzt lebt er. Also ist es nicht wahr, daß er starb. Es ist nicht mehr wahr, daß er ein anderer ist ...“, läßt der Autor Luciana, sein Medium für den „realismo magico“ in dieser Geschichte, sagen und artikuliert damit vehement die (auf Pirandello zurückgehende) Auffassung von der Unmöglichkeit einer objektiven Wahrheit. Luciana zeigt nicht den Hauch eines Zweifels, daß Mario ihr Sohn Ramiro ist, und durch dieses ausgestellte Gefühl der Gewißheit gelingt es ihr von Anfang an, die Rivalin zu „unterwerfen“. „Du sagst, deiner lebt und meiner nicht, so als wären es zwei, aber es ist nur ein einziger, es ist derselbe, meiner, den du mir erhalten und treu zurückgegeben hast ...“, beharrt sie gegen die verwirrte, ratlose Arianna, der es an Phantasie gebricht, um in dem absonderlichen Verhalten von Mario und Luciana etwas anderes als die Symptome einer psychischen Erkrankung zu sehen.

Keine der beiden Mütter ist bereit, ihren Anspruch auf den „gemeinsamen Sohn“ aufzugeben - als feindliche, unversöhnliche Gegnerinnen wie etwa die beiden um ein Kind konkurrierenden Frauen in Brechts Der kaukasische Kreidekreis stehen sie sich jedoch nicht gegenüber. Vielmehr fühlen sie sich durch ihre Liebe zu Mario-Ramiro und „die gemeinsame Belästigung in diesem Zoo menschlicher Neugier“ wie Verbündete. Natürlich muß eine Lösung für diesen „gordischen Knoten“ gefunden werden. Und die führt Bontempelli mit seifenopern- bzw. märchenhafter Freihändigkeit mittels einer Deus-ex-machina-Figur herbei, d. h. ohne Anspruch auf eine dramaturgisch schlüssige Wendung, wie er im Laufe der Geschichte mehrfach surrealistische Elemente ins Spiel bringt, um die Figuren zu motivieren und das Geschehen voranzutreiben. So vorsätzlich diese gewaltsame, tragisch dramatische Lösung auch wirkt, erscheint sie doch auch salomonisch.

In dem unvorhersehbaren Ausgang des Geschehens und der Darstellung seiner beiden in Denk- und Lebensweise so unterschiedlichen Protagonistinnen läßt der Autor Gerechtigkeitssinn walten. Bei aller Sympathie für Luciana, mit der er sein Plädoyer für die Phantasie personifiziert, zeigt er in ausgewogenem Maße Verständnis für die in den üblichen Bahnen denkende und empfindende Arianna. Darüber hinaus aber investiert er kaum etwas in eine Charakterisierung und Profilierung seiner Personnage. Seine Gestalten werden von ihm wie Schachfiguren durch diese mysteriöse Affäre geführt, nahezu unveränderlich in ihrem Verhalten, ohne nennenswerte innere Entwicklung, und so bleibt der Betrachter von den geschilderten merkwürdigen Begebenheiten doch relativ unberührt.

Die Geschichte einer Wiedergeburt wird zwar in der dem Inhalt adäquaten Diktion eines Volksmärchens dargeboten, doch fehlt es ihr durch die spürbare Regie des Autors sowohl an der Ursprünglichkeit als auch an dem anrührenden Charme einer volkstümlichen Mär, was solche Erzählungen für jung und alt so lesens- und liebenswert macht. Kritiker haben Bontempellis Erzählkunst als „herzlose Gehirnkunst“ apostrophiert. Mit einem Urteil in dieser Schärfe würde man dem Roman Sohn zweier Mütter allerdings nicht gerecht, auch wenn er durch den gewollten, rational konstruierten Handlungsverlauf einen eher künstlichen als kunstvoll fabulierten Eindruck hinterläßt.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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