Eine Rezension von Helmut Hirsch

Die Reichtümer der Erinnerung

Norberto Bobbio: Vom Alter - De senectute

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.

Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 1997, 125 S.

 

Im Gegensatz zur italienischen Originalausgabe (De senectute) setzt die deutsche Ausgabe noch Vom Alter zum Titel dieses Buches hinzu. Geschrieben von einem Mann, der auf die Neunzig zugeht, ist natürlich der italienische Titel Das Greisenalter der zutreffendere. Fühlt sich der deutsche Leser womöglich nicht gern damit angesprochen? Wer weiß. Jedenfalls traut man Leuten im Greisenalter nicht sofort ein Buch zu, bei dem auch der jüngere Leser Raum und Zeit recht schnell vergessen kann. Hier ist es so, daß man den Unterschied zwischen diesen beiden Altersstufen kaum voneinander trennen kann. Kein Wunder, denn der hier von seinem Leben erzählt und nicht allein vom Greisenalter, hat viel erlebt, viel geschrieben, gedacht, gelitten, gelehrt und auch geirrt. Der 1909 in Turin geborene Norberto Bobbio studierte Jura und Rechtsphilosophie. 1948 erhält er die Berufung auf den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie an der Universität Turin, hier wechselt er 1972 auf den Lehrstuhl für Politische Wissenschaften. Recht und Unrecht, Krieg und Frieden, Demokratie oder Diktatur - das waren über viele Jahrzehnte die Generalthemen dieses unermüdlichen Philosophen. Und da ein durch und durch philosophischer Kopf auch im vorgerückten Alter keine Ruhe gibt, erinnert er sich gern und intensiv der Stationen seines Weges.

Bobbio erzählt nicht seine Biographie. Der Strom seiner Gedanken kreist um Beobachtungen in der Gegenwart, dann wieder taucht er ein in die weite Welt der Erinnerung. Als Philosoph betrachtet er nie sich ganz allein, immer setzt er Linien hinzu, die bereits von anderen Köpfen zu Vorzeiten entworfen und durchdacht worden sind. Wenn vom Alter die Rede ist, und das betrifft das große Mittelstück dieses Buches hauptsächlich, wird von allen Lebensstufen gesprochen, die zum Alter hinführen. Einmal setzt er zwei extreme Positionen gegenüber. Auf der einen Seite den selbstzufriedenen Alten, auf der andern Seite den verzweifelten Alten. Zwei Grundfigurationen, denen jeder Mensch gleich welchen Alters jederzeit und überall begegnen kann. Norberto Bobbio sieht hier einen Konflikt, und er will zum Nachdenken „über die Vielfalt unserer Einstellungen zum Leben innerhalb dieses Labyrinths zahlloser, einander widersprechender Werte“ anregen. Das ganze Buch handelt vom schwierigen Zurechtfinden in diesem Labyrinth, wie mühevoll es ist, die Welt „und in dieser Welt uns selbst“ zu verstehen. Zwischen den Extremen „selbstzufrieden“ und „verzweifelt“ gibt es für ihn unendlich viele andere Weisen, „das Alter zu leben: die passive Hinnahme, die Resignation, die Gleichgültigkeit, die Verkleidungen desjenigen, der sich die Maske der ewigen Jugend aufbürdet, weil er sich hartnäckig weigert, seine Falten und seine schwächer werdenden Kräfte zu sehen“. Wichtig ist ihm die Erfahrung, daß das Alter nicht vom vorhergehenden, übrigen Leben geschieden ist. Es ist die Fortsetzung der Jugend, der Reifezeit. So gesehen reiht sich Bobbio in die lange Linie all derer ein, die dem Leben und Alter die Lebensalterphilosophie abgerungen haben. Platon, Aristoteles, Seneca, Montaigne, Schopenhauer, Nietzsche und Bobbio üben ihr Denken im Zusammenhang von Zeit, Erfahrung und Erkenntnis. Das Alter ist Thema aller Philosophie. Aber Bobbio setzt Zeichen, warnt vor Phrasen, eine davon heißt: Das Alter genießen. Hier setzt sein Skeptizismus ein, denn in einer Gesellschaft der totalen Vermarktung „kann auch das Alter zu einer Ware wie jede andere werden“. Ein Blick nur in Altersheime, Krankenhäuser oder in die Wohnungen armer Leute lehrt das Elend dieser Welt, das oft zum blühenden Geschäft geworden ist. Wohl dem, der noch einigermaßen wohlauf ist, physisch und psychisch. Denn die Welt der alten Menschen ist die Welt der Erinnerungen. Ein Schatz, ein Reichtum, der aber gehoben werden will. Norberto Bobbio schreibt: „Man sagt: am Ende bist du das, was du gedacht, geliebt, vollbracht hast. Ich möchte hinzufügen: du bist das, was du erinnerst.“ Die nicht ausgelöschten Erinnerungen sind ihm die Reichtümer, auf die der alte, der alternde Mensch bauen kann. Erinnern ist zugleich geistige Tätigkeit, „die du oft scheust, weil sie mühevoll oder peinlich ist. Doch es ist eine heilsame Tätigkeit. In der Erinnerung findest du trotz all der vielen Jahre, die du gelebt, trotz der unzähligen Ereignisse, die du erlebt hast, dich selber wieder, deine Identität.“

Bobbio versteht sein Alter, sein Greisenalter (weil der Italiener da weniger verstellt ist) als eine unendliche Gedächtniswanderung. Auch die oft erörterte Frage nach dem, was nach dem Tode komme, umgeht Bobbio nicht. Doch sieht er als Nicht-Glaubender die Sache ganz nüchtern. Reinkarnation, ein Modethema unserer Zeit, für ihn ist es das nicht. Denn: „Niemand kann Gewißheit über ein Ereignis besitzen, für das es keine Beweise gibt. Auch die Gläubigen glauben nur, daß sie glauben. Ich glaube, daß ich nicht glaube.“ Doch kann das Leben nicht ohne den Tod gedacht werden. Norberto Bobbio sieht es ganz gelassen: „Das Leben achtet, wer den Tod achtet. Wer den Tod ernst nimmt, nimmt auch das Leben ernst, dieses Leben, mein Leben, das einzige Leben, das mir gewährt wurde.“ Sätze von solch kristallener Klarheit haben eine Ausstrahlung, denn sie kommen aus einem Kopf, der wesentliche Erfahrungen gesammelt, verarbeitet und formuliert hat.

Norberto Bobbio, der unermüdliche Denker, weiß aber auch, daß er als Endachtziger nicht mehr viel Raum für Entdeckungsreisen in den verschiedensten Wissensgebieten vor sich hat. „Es scheint“, schreibt er, „als wäre die Kammer, wo die Erkenntnisse aus unterschiedlichsten Lektüren, die Ergebnisse jahrelanger Forschungsarbeiten über ein bestimmtes Thema, für die ich die Bibliotheken vieler Länder besucht und in Hunderten von Büchern und Dokumenten nachgeschlagen habe, angesammelt sind, nun voll und könnte nichts mehr aufnehmen.“ Neue Gedanken, die noch immer auf ihn zu kommen, empfindet er fast wie Eindringlinge, die diesen inneren Raum betreten wollen, „in dem es keinen Platz mehr gibt“.

Das unausweichliche Zeitproblem des abbauenden Alters wird ganz einfach beschrieben: „Ich müßte schneller werden, um noch rechtzeitig anzukommen, statt dessen erlebe ich Tag für Tag, daß ich gezwungen bin, mich langsamer zu bewegen.“ Immer wieder hält Bobbio inne, ruft sich zu: „Bleib nicht stehen. Versäume es nicht, weiterzugraben. Jedes Gesicht, jede Geste, jedes Wort, jeder noch so weit entfernte Gesang, die du wiederfindest, obwohl sie für immer verloren schienen, helfen dir zu überleben.“ - So überlebt der alte Mensch, der Greis, durch Erinnern die Zeitalter seiner Erfahrungen.

Diesem eindrucksvollen Text folgt dann doch noch ein auf viele Sachpunkte bezogenes biographisches Erinnern. Bobbios „Intellektuelle Autobiographie“ zeigt die Mühen des Denkens in der Welt von gestern. Es ist die Chronik seiner Aneignungen, seiner Widersprüche und seiner Erfolge. Der Glaube an ein „unteilbares Europa“ schon 1950, die Entscheidung für einen liberalen Sozialismus, der vermitteln wollte zwischen Weltmonstern wie Kapitalismus und Kommunismus. Kuriose Sprünge zwischen rechts und links werden beschrieben, Balanceakte, wie sie nur in Italien möglich und nötig waren. Viel hat er erreicht, Bücher geschrieben, Generationen von Studenten ausgebildet. Doch steht der alte Mensch schließlich fast wieder am selben Punkt? Norberto Bobbio schreibt, nicht frei von Melancholie: „Du bist am Ende des Lebens angekommen und hast doch den Eindruck, am Ausgangspunkt stehengeblieben zu sein, was das Wissen um Gut und Böse betrifft. Alle großen Fragen sind unbeantwortet geblieben.“ Zu diesen unbeantworteten Fragen gehört auch die, ob es in der Zukunft auch eine Demokratie, wie Bobbio sie versteht, geben wird. Keineswegs sind für ihn die politischen Übereinkünfte für alle Zeiten feststehend, und die Weiterentwicklung eines friedlichen Zusammenlebens ist eine Aufgabe, die sich stets neu, stets anders und vermutlich immer komplizierter gestalten wird. Bobbio weiß aus Erfahrung, daß die Demokratie Gewalt nicht verkraften kann.

Geradezu minutiös gibt Norberto Bobbio Auskunft über seine akademischen Stufen, über seine Themen und die vielen Publikationen. Er gibt sich als „Liebhaber von Symmetrien“ zu erkennen, nennt Gegensatzpaare wie Liberalismus und Sozialismus, Aufklärung und Pessimismus, Toleranz und Unnachgiebigkeit als ihm lebenswichtige Themen. Der Rolle des Intellektuellen wünscht er immer eine gewisse Portion Utopismus. Die Ideen anderer zu respektieren gilt ihm viel: „Vor dem Geheimnis innezuhalten, das jedes individuelle Bewußtsein birgt, zu verstehen, bevor ich diskutiere, und zu diskutieren, bevor ich verurteile.“

Fanatiker verabscheut Bobbio „aus tiefster Seele“. Kein Wunder bei einem Mann, der sich, seine Erfahrung und die Welt ernst nimmt.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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