Eine Rezension von Henrik Engel

Der streitbare Streit

Bernd Wittek: Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland

Tectum Verlag, Marburg 1997, 162 S.

 

Nach der 1991 von Thomas Anz herausgegebenen Verlaufsbeschreibung Es geht nicht um Christa Wolf - Der Literaturstreit im vereinten Deutschland und dem im selben Jahr unter dem Titel Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde“, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge erschienenen Materialienband von Karl Deiritz und Hannes Kraus liegt nun eine dritte umfassende Analyse des deutschen Literaturstreits vor.

Der deutliche zeitliche Abstand erweist sich hierbei als Vorteil, um das Meer von Argumenten und die einst hochgeschlagenen Wogen des „Streits“ in ihrer Gesamtheit überschauen zu können. Er verhilft dazu, aus der Distanz neue Sichtweisen auf die bisher vornehmlich auf Christa Wolfs Erzählung Was bleibt beschränkte Auseinandersetzung zu fördern. So bleibt ein wesentliches Novum dieser Arbeit, die Kritik an Günter Grass’ 1995 erschienenem Roman Ein weites Feld der als „Literaturstreit“ bezeichneten Auseinandersetzung für und wider einer „littérature engagée“ zugeordnet zu haben, auch wenn der Titel der entsprechenden Kapitelüberschrift diese nicht minder heftig geführte Debatte als einen „Nachtrag zum Literaturstreit“ verstanden wissen will. Sie bildet aber einen wesentlichen Kern dieses zuvor vornehmlich auf Christa Wolf beschränkten „Streits“ und hätte, konsequenter verfolgt, zu neuen Einsichten führen können. Der unterbliebene Vergleich mit der Rezeption beider Werke im Ausland allein hätte die politisch-ideologische Voreingenommenheit, mit der die Rezensenten des zumeist (west)deutschen Feuilletons beiden Autoren nahetraten, noch intensiver verdeutlicht. „Im Ausland geschätzt - Im Inland gehaßt?“ lautete denn auch folgerichtig der Titel eines internationalen Symposiums anläßlich von Grass’ 70.Geburtstag an der Universität Köln, auf dem mehr als 14 Literaturwissenschaftler aus mindestens sechs verschiedenen Ländern dreier Kontinente die literarische Qualität von Grass’ jüngsten Publikationen vehement bestätigten. Die durch Greiner, Schirrmacher und Bohrer verbreiteten „Erkenntnisse“ sehen sich somit vorerst auf das Feuilleton zurückverwiesen. Oder sollte der wohlwollende Ton des Autors gegenüber den kritisierten Literaten darin begründet liegen, daß vorliegender Band eine erste (umfassende) Antwort auf die vornehmlich im westdeutschen Feuilleton geführten Auseinandersetzungen aus ostdeutscher Sicht ist?

Mit Erstaunen registriert man das Bemühen um eine objektive Sicht auf diesen häufig sehr subjektiv geführten Streit. Fast erweckt es den Eindruck, daß schon der ruhige und sachliche Ton eine Wertung jener über weite Strecken aufgeregt und polemisch geführten Diskussion beinhaltet. Als ein Kritiker von Literaturkritik erlöst der Autor dieses Bandes die dem Zeitgeist postmoderner Beliebigkeit verschriebenen Besprechungen aus der ihnen anhaftenden Kurzatmigkeit des feuilletonistischen Tagesgeschäfts und ordnet die Auffassungen von Kritikern einer vermeintlichen „Gesinnungsästhetik“ jener Debatte um moderne und postmoderne Literatur zu, in deren Schatten Bohrer, Greiner und Schirrmacher sich bewegten. Zu diesem Zweck wurde ihre wenig wohlwollende Bewertung bundesdeutscher Nachkriegsliteratur herangezogen, welche verdeutlicht, daß der Versuch einer Entkanonisierung von Christa Wolf sich jenem Kontext zuordnet, der einer Distanzierung von jeglicher „littérature engagée“ das Wort redet. Daß dieser durch „FAZ“ und „Zeit“ dröhnende Bockgesang gegen „Gesinnungsästhetik“ selbst zur Gesinnungsästhetik mutiert, in dem sie die Entpolitisierung von Literatur zu ihrem alleinigen Qualitätsmaßstab erhebt, und diese dabei um eines ihrer Wesensmerkmale beraubt, wird transparent. Es hätte sich hierbei angeboten, noch deutlicher auf die Höhepunkte in der Geschichte jener antigesinnungsästhetischen Literaturauffassung (von der Propagierung einer „l’art pour l’art“ über die Formalismusdebatte in den 50er Jahren bis zu dem 1966 durch Emil Staiger initiierten „Zürcher Literaturstreit“) einzugehen. Spätestens hier hätte deutlich gemacht werden können, daß die Thesen von Greiner & Co. nicht viel mehr als ein bereits oft gesungener Refrain im immer wieder neu angestimmten Chor über das Verhältnis von Sinn und Form in der Literatur sind.

Leider gleitet der Stil des Autors in Auseinandersetzung mit bzw. der Beschreibung von Greiners, Bohrers und Schirrmachers Thesen nicht selten in deren schweratmigen Professorenstil ab, wo Leichtigkeit und Witz angebracht wären, um sich von ihren Auffassungen auch stilistisch zu distanzieren. Vorliegender Band ist denn auch dort am besten, wo er seinen eigenen Stil bewahrt: am Anfang (im Kapitel Zur Vorgeschichte des Streits, der eine Übersicht auf das Prosawerk von Christa Wolf gibt) sowie am Ende (das die Kritik an Günter Grass’ Ein weites Feld analysiert). Diese Kapitel strahlen eine Klarheit aus, die wesentliches Merkmal jener Germanistik war, deren Grundlagen ein Lehrer von Christa Wolf in Leipzig legte: Für Hans Mayer war Vorbedingung von Wissenschaftlichkeit immer auch Verständlichkeit.

Daß sich ein Vertreter aus der Enkelgeneration jener Leipziger Schule, die seit dem Abwicklungsrausch der 90er Jahre nicht mehr in Gefilden internationaler Erstrangigkeit, sondern vielmehr auf dem Niveau nationaler Drittklassigkeit sich „blühender Wissenschaftslandschaften“ erfreuen darf, mit den ideologischen Abwicklungsbossen ostdeutscher Literatur und Literaturwissenschaft auseinandersetzt, verleiht diesem Band eine gewisse Brisanz. Zugleich verbindet er die Würde des Rückzugs mit dem in Leipzig von Ernst Bloch gelehrten „Prinzip Hoffnung“. Von dieser Hoffnung muß vorliegender Text über weite Strecken getragen worden sein, als er nach der Schließung jener den Verfasser anstellenden Institution vornehmlich in Berliner Taxis geschrieben worden ist und im asiatischen Ausland eine Überarbeitung erfuhr. Der Band ist zugleich ein moralisches Fragezeichen hinter jene Literaturkritik, die in wohlklimatisierten und gut beheizten Büros der jeweiligen Hamburger, Berliner oder Frankfurter Verlagshäuser das Beste und Wertvollste der deutschen Literatur einer konservativen (Literatur-)Geschichtsschreibung zu opfern bereit war. Doch werden Christa Wolf, Günter Grass und Heinrich Böll die heiseren Laute der „Neutöner“, als die Hermann Hesse jene Vielschreiber des feuilletonistischen Zeitalters zu bezeichnen pflegte, überleben.

Das Verdienst des Autors bleibt es, eine wichtige Phase in der Zäsur zweier künstlich von einander getrennter Literaturen nachgezeichnet zu haben. Bernd Wittek reduziert den Literaturstreit auf das, was er - wie beide deutsche Staaten zuvor - letztlich war: ein „Gebilde des kalten Krieges. [... Er] wurde in dessen Sprache geführt. Es war ein antiquiertes gegenseitiges Behaupten von angeblichen Gewißheiten, wobei das Westfeuilleton dem Osten Vorschriften für künftige Literatur zu machen suchte. [...] Es ging um Macht, Einfluß und Geld für den jeweiligen Kulturbetrieb.“ Als demokratisches Defizit und abschreckendes Beispiel für eine sich neu bildende europäische Literatur belastet sie deren Entstehungsprozeß mit schwerer Hypothek. So wird dieser Literaturstreit, in dem man „aneinander vorbeigeredet“ hat und in dem sich Frauen nicht zu Wort meldeten, da sie das führende deutsche Feuilleton nicht kennt, als ein letztes Aufbäumen kalter Krieger ohne Gegner in die Annalen der Literaturgeschichtsschreibung eingehen. Dieser Band versucht eine erste vorsichtige Wertung und Objektivierung jener bisher beispiellosen Don Quijoterie im deutschsprachigen Feuilleton der Nachkriegszeit.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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