Eine Rezension von Herbert Schwenk

„Der Ernst der Lage wird verkannt“

Arnulf Baring in Zusammenarbeit mit Dominik Geppert:

Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten.

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997, 2. Aufl., 352 S.

 

„Wichtig ist allein die Einsicht, daß die guten Jahre vorüber sind. Stürme ziehen auf, und wir alle gemeinsam müssen auf Deck mithelfen, unser Schiff wetterfest zu machen. Sonst könnte es kentern.“ Diese eindringliche Warnung kommt aus berufenem Munde. Der auch aus dem Fernsehen und früher als Redakteur des Westdeutschen Rundfunks (1962-1964) bekannte Professor für Zeitgeschichte und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin, Arnulf Baring (Jahrgang 1932), stößt mit dem vorliegenden Buch einen Kassandraruf aus, der an Schärfe und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Seine Analyse der Situation Deutschlands am Ende des 20. Jahrhunderts und damit auch im Wahljahr 1998 fällt alles andere als schmeichelhaft für die Regierung Kohl aus. Mit dem Krisenbegriff zur Kennzeichnung bundesdeutscher Realitäten wurde nur noch in der DDR beim Thema „allgemeine Krise des Kapitalismus“ inflationärer umgegangen! Barings Spiel mit diesem Begriff in allerlei Wortwendungen wie industrielle Strukturkrise, Krise der Staatsfinanzen, Krise des Sozialstaates, Hochschulkrise, deutsch-deutsche Vereinigungskrise, außenpolitische Krisenängste usw. gleicht etwa dem, was Walter L. Bühl „Rhetorik der Krise“ nannte (Krisentheorien, Darmstadt 1988). Was allerdings in der Marxismus-Leninismus-Theorie über die „allgemeine Krise des Kapitalismus“ bloßes Vehikel zur Begründung der A b s c h a f f u n g des Kapitalismus war, zielt bei Arnulf Baring auf ein Wachrütteln zur A u s b e s s e r u n g der bundesdeutschen Gesellschaft im Übergang ins nächste Jahrhundert. Während er dazu die ersten drei Kapitel im wesentlichen der inneren und äußeren Lagebeschreibung widmet (ein ganzes Kapitel behandelt die Europäische Währungsunion), klopft er im letzten Chancen zur B e h e b u n g der Misere ab.

Baring skizziert ausgiebig die neuen Existenzbedingungen Deutschlands als „das Zusammentreffen unterschiedlicher, aber eng miteinander verzahnter Krisen“. Obwohl er sich an keiner Stelle seines Buches auf eine wissenschaftliche Klärung des Krisenbegriffs einläßt, kann der Leser wohl erahnen, wozu Politikwissenschaftler Baring mit seiner strapazierten Krisenmetaphorik beitragen will: den von einer Krankheit erfaßten organischen Gesellschaftskörper (in der Medizin bedeutet „crisis“ Höhe- und Wendepunkt einer Krankheit) zur Regeneration, zur Wiedergeburt, zum Übergang in eine bessere Gesellschaftsform zu führen. Dazu können ihm die Beschreibungen der Situation nicht düster genug sein. Wir erleben eine Schlechtwetterzone sondergleichen. Die gesamte Gesellschaft dämmert und dümpelt dahin. Im Lande grassieren Schläfrigkeit, Antriebslähmung, lähmende Überbürokratisierung, schleichender Niedergang. Die industrielle Basis und der Mittelstand schrumpfen, die Innovationsfähigkeit läßt nach, der Rückstand bei modernen Technologien wird größer, die Subventionen der alten Strukturen ufern aus, der Sozialstaat ist unbezahlbar geworden und der Wohlfahrtsstaat am Ende, das Bildungswesen ist verrottet, die Krankenversicherung steckt in der Misere, die Gesellschaft vergreist, die Zuwanderung von Ausländern nimmt rasch zu, die Kriminalität unter ihnen wächst schneller als im allgemein hohen Durchschnitt. Statt der bisher beschworenen Gefahr einer Zwei-Drittel-Gesellschaft, bei der nur ein Drittel für bedroht gehalten wurde, muß man heute damit rechnen, daß möglicherweise zwei Drittel verarmen werden. Und was machen wir, fragt der Autor, „wenn sich die Arbeitslosenzahl verdoppeln - anstatt halbieren - sollte?“

Fast alles ist anders geworden; auch außerhalb Deutschlands ist die Lage „vollkommen neu“. Nach dem Ende der Sowjetherrschaft und der viel beschworenen sowjetischen Bedrohung gibt es einen einheitlichen Westen nicht mehr. Aber die Welt bleibt weiterhin gefährlich. Die Bedingungen für deutsche Stabilität in der Mitte Europas sind schwieriger geworden. Die alte Mentalität ist noch verbreitet, in einem sicheren Geleitzug mitzufahren. Der Politikwissenschaftler warnt davor, „mit dem Rücken zu allen absehbaren Gefahren einzuschlafen“. Seit 1990 sind trotz jahrzehntelanger Integrationsbemühungen alte Rivalitäten wieder aufgetaucht. Es gibt verschiedene Europa-Konzepte, denen gegenüber sich die deutsche Außenpolitik hilflos verhält, und Baring scheut sich nicht, von einer „wesentlich rhetorischen Ersatz-Außenpolitik“ zu sprechen, die aller Welt alles nur Wünschenswerte verspricht. Er sieht nach dem Ende des Kalten Krieges eine wachsende Abwendung der USA von Europa und eine schleichende gegenseitige Entfremdung. Angesichts dessen kommt den neuen Beziehungen zu Osteuropa große Bedeutung zu, wobei Deutschland innerhalb des westlichen Bündnisses ein Frühwarnsystem für osteuropäische Gefahren entwickeln müsse. Für die Gier der Bonner Außenpolitik nach einem Sitz im UN-Sicherheitsrat kann der Autor kein Verständnis aufbringen: „Denn mit einer weltweiten Präsenz und Verantwortung wären wir völlig überfordert.“ Baring mahnt, künftig genau zu überlegen, an welcher Stelle welche Verantwortung übernommen werden kann. Die Ziele der deutschen Außenpolitik müssen neu abgesteckt werden, einschließlich von Festlegungen, „für welche Ziele, in welcher Richtung wir die anderen zu gewinnen versuchen“. Und natürlich brauchen wir dazu auch eine „wirkliche Hauptstadt“! Darum ist dem Berliner nicht bange: „Es wird ein Verdichtungsraum sein, ein Ort, an dem sich die rationalen und emotionalen Kräfte Deutschlands bündeln und steigern und so Impulse freisetzen, die auf das ganze Land - und wenn man Glück hat, über seine Grenzen hinaus - positiv nach außen ausstrahlen.“

Die veränderte außenpolitische Rolle Deutschlands hängt wesentlich mit der deutschen Vereinigung zusammen. Der Begriff der „deutsch-deutschen Vereinigungskrise“ macht zwar auf die vielen mit der Vereinigung verbundenen Probleme aufmerksam, ohne jedoch deren Ursachen tiefer auszuloten. Vieles bleibt hier klischeehaft oder folgt den Argumenten der regierenden Parteien, wenn etwa kommentarlos Theo Waigels Zahl vom 1000-Milliarden-Mark-Transfer (bis 1996) in die neuen Länder stehengelassen wird. Barings Sicht auf die untergegangene DDR wird in den neuen Bundesländern kaum rauschenden Beifall finden. Worte wie „rote Diktatur“ oder „mentale Verarmungen und Verwüstungen des Sozialismus“ sind zu grobe Raster, die Situation in der ehemaligen DDR adäquat zu erfassen. Vorhaltungen wie die vom „fordernden Jammern oder jammernden Fordern, was die kraftlose mentale Befindlichkeit der früheren DDR weithin kennzeichnet“, oder die Darstellung der Vereinigung als „psychologische Belastung“ dürften im Osten auf wenig Verständnis stoßen. Und ob die „tiefen Spuren“, die der Realsozialismus im Osten Deutschlands hinterlassen hat, nur zu beklagen sind, bedarf einer sorgfältigeren Recherche. Besonders kraß zeigt sich Barings eingeengte Sicht auf den deutschen Osten im Umgang mit der PDS. Unkenntnis oder nicht: Das Klischee der Gleichsetzung von SED und PDS („lediglich umbenannte SED“, „Wandel des Erscheinungsbildes durch bloßen Kleidertausch“) hat mit Politikwissenschaft nichts zu tun. Jeder Vergleich der Programme widerlegt den Vorwurf, die PDS habe sich nur „verbal gehäutet“.

Es ist die Überzeugung des Autors, daß sich die inneren Krisenprozesse angesichts der geplanten Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung zum 1. Januar 1999 weiter verschärfen werden. Zwar wiederholt auch Arnulf Baring die von der politischen Klasse beschworenen Vorteile der Einführung des Euro - jedoch ist auch hier sein Kassandraruf unüberhörbar. Viele Zweifel meldet auch er an. Er spricht vom Euro als einem waghalsigen und kostspieligen Einfall, von Risiken für Wohlfahrt und Sicherheit, von einem gigantischen Erpressungsmanöver und Zerstörungspotential. Auch wenn es gelingt, die Stabilität des Euro für einige Jahre zu erzwingen, die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum werden ihren Tribut fordern. Und Deutschland kann nicht auf Dauer „Europas Wirtschaftspolizist oder spendabler Wohltäter“ sein. Allerdings befindet sich der Euro von 1999 bis 2002 noch in der Testphase - und da kann noch einiges geschehen, meint nicht nur Baring.

So sehr man dem Autor in seiner schonungslosen Analyse folgen kann, so vehement möchte man Einwände zu seinen Überlegungen und Vorschlägen für künftiges politisches Handeln erheben. Mir scheint, der Strategieteil bleibt auch bei Baring - wie so oft! - deutlich hinter dem Analyseteil zurück. „Unser oberstes Ziel muß es heute sein, unser eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Das ist das Beste, was wir für uns und die Welt tun können.“ Das mag vielseitigen Beifall finden - nur kann ein solches Credo in einer Welt wachsender globaler Verflechtungen und Risiken ein politisch taugliches Konzept sein? Baring fordert z. B. eine „unsentimentale Einwanderungsregulierung“ - aber wie soll diese praktiziert werden bei wiederholter Forderung nach Abbau staatlicher Reglementierung und Regulierung? „Die Vorstellung vom Staat als einer Instanz, die für alle Lebensverhältnisse verantwortlich ist und für deren Krisen aufkommen muß, hat sich überlebt“, meint der Autor. Abgesehen davon, daß sich der bundesdeutsche Staat niemals „für alle Lebensverhältnisse“ verantwortlich gezeigt hat, drängt sich doch die Frage auf: Wie verhält sich diese Forderung nach weniger staatlicher Präsenz mit den neuen Erfordernissen komplexer gesellschaftlicher Reproduktion - national, regional und international? Wie sollen die schweren Disproportionen „geheilt“ und neue Proportionen geschaffen werden, wenn der Staat aus seiner Verantwortung entlassen wird? Ist es nicht allzu einfach, die staatliche Lenkbarkeit der Konjunktur, die Modellierbarkeit der Industriestrukturen, eine von daher garantierte, großzügige Sozialstaatlichkeit schlichtweg als „falsche Prämissen“ ad acta zu legen? Wie sollen die heutigen und künftigen Arbeitskräfte auf die modernen Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereitet werden, wenn sich der Staat noch weniger um Bildung und Ausbildung kümmert? Und sind nicht dafür auch künftig in großem Umfang beim Staat zentralisierte Lohnbestandteile (Lohnsteuer und diverse Sozialabgaben) erforderlich? Geht es nicht vielmehr darum - statt einer „Privatisierung“ der Erfordernisse der Reproduktion der Arbeitskraft das Wort zu reden -, in neuer Qualität demokratischen Einfluß auf ebendiese beim Staat zentralisierten Lohnbestandteile zu erlangen? Solche und ähnliche Fragen, die schon seit langem - z. B. in den Gewerkschaften oder in Dissertationen in der ehemaligen DDR - diskutiert wurden, klammert der Autor in seinen Betrachtungen seltsamerweise vollständig aus. So nimmt es nicht wunder, wenn die Untersuchung der Kräfte, die die dringend notwendigen Veränderungen bewirken könnten, damit Deutschland nicht scheitert, in Barings Darstellung nicht nur entschieden zu kurz kommt, sondern auch zum Teil Erstaunen auslöst, etwa wenn er resümiert: „Am ehesten sind den deutschen Liberalen Beiträge zur Lösung unserer Probleme zuzutrauen.“ Auch Barings Vorschläge zur „Heilung“ der Krise sind nach meiner Auffassung der Größe der Aufgabe nicht angemessen. „Wer eine ,Krise‘ diagnostiziert, muß doch ein weiser Arzt sein, der die großen Zusammenhänge des Lebens kennt, der vielleicht sogar die Mittel zur Heilung (zum politisch-religiösen ,Heil‘) zur Hand hätte, wenn man ihn nur riefe“, fordert W. L. Bühl sehr anspruchsvoll in seinen bereits erwähnten Krisentheorien.

Barings Buch ist ein später Kassandraruf. Kassandra, der Sage nach die Tochter des letzten trojanischen Königs Priamos, gab einst eine unheilvolle Warnung vor dem Untergang ihrer Vaterstadt - aber sie fand keine Beachtung. Möge der Warnung von Arnulf Baring dieses Schicksal nicht beschieden sein!


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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