Eine Rezension von Gisela Reller

Der Krieg aller Kriege

Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl

Eine Chronik der Zukunft.

Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko.

Berlin Verlag, Berlin 1997, 285 S.

 

Swetlana Alexijewitsch ist fünfzig Jahr alt, wirkt klein (nicht unscheinbar), energisch und zugleich bescheiden (nicht schüchtern). Als Journalistin war sie - mit offenen Augen und Ohren - schon immer viel im weiten Sowjetland herumgekommen. In ihren Büchern nimmt sie sich seit fast einem Vierteljahrhundert der brisantesten Themen an. Im März 1998 wurde ihr dafür von Bundespräsident Roman Herzog der mit 20 000 Mark dotierte „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ verliehen. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, daß die Autorin aufschlußreiche Berichte über die mentale und seelische Verfassung unterschiedlichster Menschen in der zerfallenden sowjetischen Gesellschaft zu verdanken seien.

Swetlana Alexijewitsch sind nicht nur aufschlußreiche Berichte über die mentale und seelische Verfassung unterschiedlichster Menschen in der zerfallenden sowjetischen Gesellschaft zu verdanken. Bereits ihr erstes Buch berichtet über solche Menschen. Die leben allerdings in der noch existierenden Sowjetunion. In Der Krieg hat kein weibliches Gesicht erzählen Frauen, die 1941 freiwillig in einen Krieg gingen, in dem achthunderttausend Mädchen und Frauen nicht nur als Ärztinnen und Krankenschwestern, sondern auch als Scharfschützen, Nachrichtensoldaten, Flieger, Bordschützen, Flakhelfer, Kavalleristen, Panzerfahrer ... „wie Männer kämpften, aber wie Frauen fühlten“.

Bei ihrem zweiten Buch Die letzten Zeugen blieb Swetlana Alexijewitsch beim Thema Krieg und auch beim „Genre der Stimmen“ - diesmal aus der Sicht von Kindern.

Nach diesen beiden Büchern beabsichtigte Swetlana Alexijewitsch, nie mehr über den menschenverachtenden Krieg zu schreiben, sondern plante ein Buch über die menschenfreundliche Liebe. In je hundert „Beichten“ sollten Frauen und Männer „über die ewige Sehnsucht nach Glück“ erzählen. „Aber“, so sagt sie, „der Afghanistan-Krieg machte mir zu schaffen. In der sowjetischen Propaganda hieß es, die sowjetischen Soldaten würden in Afghanistan Häuser bauen, Gärten anlegen ... Aber warum kamen dann Tausende Zinksärge von dort?“ Nach wie immer ausgiebigen Gesprächen erschien ihr Buch Zinkjungen.

Ist jetzt Zeit für die Liebe? Nein. Die tapfere Journalistin und Schriftstellerin entdeckt in einer Zeitung den Abschiedsbrief eines Selbstmörders. In der Russischen Föderation hatten sich 1991 über 60 000 Menschen selbst umgebracht, 20 000 mehr als im Jahr zuvor; über eine Million Menschen hatten Selbstmordversuche unternommen. Wieder im „Genre der Stimmen“ - inzwischen zu dokumentarischen Dichtungen gereift - schreibt Swetlana Alexijewitsch Im Banne des Todes. Die Porträts von Ingenieuren und Kraftfahrern, Kellnern und Söldnern, Schülern und Rentnern, Kriegsteilnehmern und Funktionären der KPdSU, die sich erhängten, vergifteten, erschossen, verbrannten oder sich zu Tode stürzten, sind aufregend, traurig, schmerzlich, bewegend, ergreifend, bestürzend. Auch unbegreiflich? „Es ist schwer“, sagt Swetlana Alexijewitsch, „Menschen, die nicht im ,Sozialismus‘ leben, Gefühle, Enttäuschungen, Verbitterungen nahezubringen.“

Das begonnene Manuskript über die Liebe liegt noch immer im untersten Schreibtischfach, „denn“, so Swetlana Alexijewitsch, „meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, ich lebe seit Jahren mit meiner Familie im belarussischen Minsk - ich mußte mich erst noch Tschernobyl stellen“.

1986 zerstörte eine Serie von Explosionen Reaktor und Gebäude des 4. Energieblocks im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Während in Rußland 0,5 Prozent und in der Ukraine 4,4 Prozent des Territoriums atomar verseucht wurden, waren es in Belarus (Belorußland) 23 Prozent. Auch heute noch - zwölf Jahre nach dem Super-GAU - erhöht sich in Belarus mit jedem Jahr die Zahl der Menschen mit Krebserkrankungen, geistiger Unterentwicklung, psychischen Störungen und genetischen Mutationen ... Krebs, Geisteskrankheit, psychischen Störungen, genetischen Mutationen ... Begriffe, die unnahbar wirken, vielleicht in dieser Aufzählung sogar überlesen werden. Wenn man Swetlana Alexijewitschs Buch gelesen hat - was hintereinander ganz und gar unmöglich ist -, verbinden sich mit diesen Begriffen Menschenschicksale. Schicksale, die einem das Blut in den Adern gerinnen lassen, die einem die Tränen in die Augen treiben. Ich habe geheult, geheult, geheult... So furchtbar hatte ich mir das alles nicht vorgestellt, nicht vorstellen können. Swetlana Alexijewitsch läßt wieder Beteiligte und Betroffene sprechen. Sprechen? Aufschreien! Keiner, der Tschernobyl nicht mit Krieg vergleicht. Im Dorf Bely Bereg nennt ein Gesprächspartner Tschernobyl „den Krieg aller Kriege“. Swetlana Alexijewitsch zeigt die Belarussen als Volk, das Furchtbares durchleidet.

Aber nicht nur ungeheures Mitleid mit den Betroffenen fühlt man, sondern auch unbändige Wut auf Funktionäre, die den Feuerwehrleuten, Soldaten und Einwohnern bewußt die Gefahr verschwiegen; auf Wissenschaftler, die gegen besseres Wissen Daten manipulierten; auf Beamte, die sich an Vergünstigungen gesundstießen, die für die betroffene Bevölkerung gedacht waren; auf Bürokraten, die - um den Plan zu erfüllen - verstrahlte Felder abernten ließen und verseuchte Milch ablieferten; auf Plünderer, die sogar verseuchte Deponien ausraubten, um hochverstrahltes Hab und Gut werweißwohin zu verscherbeln ...

Tschernobyl ist außer in Deutschland in den USA, in Japan und in Frankreich auf dem Markt. In Belarus hat der diktatorische Präsident Lukaschenko Tschernobyl verboten ...


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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