Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Ein maßvoller und ehrlicher Lebensbericht

Richard von Weizsäcker:

Vier Zeiten. Erinnerungen

Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 1997, 480 S.

 

„Was ich hier aufschreibe, ist kein Geschichtsbuch, sondern ein persönlicher Bericht über ein aus der Familie kommendes und in sie eingebettetes Leben.“ So heißt es im Geleitwort dieser Erinnerungen. Sie sind Autobiographie und mehr. Die Fülle der Begegnungen, Beobachtungen, mit Vergangenheit und Gegenwart verbundenen Ereignisse weitet den Lebensbericht zu einem Geschichtsunterricht. Er reicht von der Weimarer Republik, der Nazi- und Kriegszeit, dem geteilten Deutschland in einer geteilten Welt bis zur deutschen Vereinigung. In der ihm eigenen Diktion schildert Richard von Weizsäcker prägende, wichtig erscheinende, unvergessene Erlebnisse: kurze Sätze, schnörkellos, von Tatsachen ausgehend, zum knappen Kommentar führend. Beherrschte Sprache im doppelten Sinne - geschliffenes Deutsch und moderate, stets um Ausgewogenheit bemühte Aussage. Je weiter der Bericht zeitlich voranschreitet und den Werdegang des Politikers bis in das höchste Staatsamt zeigt, desto mehr weitet sich das Panorama, desto mehr treten Deutschland- und Weltpolitik in den Vordergrund.

Der Leser kann sich über Mangel an Aktualität nicht beklagen. Da wird die Forderung nach doppelter Staatsbürgerschaft für die jungen Türken aus dem Leben im heutigen Berlin begründet, der ehemalige Regierende Bürgermeister ist ja durchaus sachkundig. Da wird, um ein ganz andersartiges Beispiel zu nennen, eine scharfsinnige Analyse gesellschaftlicher Folgen und Notwendigkeiten der deutschen Einheit angeboten, die in zwei Sätzen gipfelt: „Die Diskrepanz zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut hat einen Höhepunkt erreicht.“ Und: „Im generellen Bereich menschlicher Beziehungen wollen wir das Ziel im Auge behalten, den Frieden untereinander zu finden, vereint im Verständnis der Vergangenheit.“ Dies schließt für Weizsäcker die Existenzberechtigung der Gauck-Behörde ein. Zugleich merkt er an: „Der Gründlichkeit der Aufzeichnung aller Vorfälle durch die Staatssicherheit selbst entspricht die Art und Weise, wie wir die Akten nun aufarbeiten und auswerten.“ Unnachahmlich werden hier Tatsachen festgestellt und gewertet, scharfe Mißbilligung und kritische Billigung in einem Atemzug zum Ausdruck gebracht.

Von den Bürgern der DDR sagt der Altbundespräsident: „Unter schwierigsten Bedingungen führten die allermeisten von ihnen ein Leben in Anstand.“ Ein Wort, das vom Bemühen um Gerechtigkeit gegen jedermann zeugt. Dieses Bemühen ist allenthalben zu spüren. Es wird von Offenheit begleitet. Fragwürdige Kompromisse um des inneren und äußeren Friedens willen werden nicht angeboten. Der CDU schreibt Weizsäcker ins Stammbuch: „In ihren Reihen bestätigte sich immer von neuem eine alte Erfahrung: Man kann nicht bewahren, was zur Erstarrung neigt. Ein guter Konservativer“ - und damit meint der Autor auch sich - „ist nur, wer zur Erneuerung fähig ist. Ein guter Erneuerer ist, wem es gelingt, sich für die fälligen Erneuerungen der Konservativen zu bedienen.“

Tiefgründig und streitbarer als an manch anderer Stelle setzt er sich mit dem C im Namen der CDU auseinander, das ihm „Schwierigkeiten bereitete“. Er fragt rückblickend, aber im Heute geschrieben und deshalb aktuell: „Macht es nicht die Lücke allzu spürbar, die in unserer Politik zwischen Ankündigung und Wirklichkeit klafft, zwischen Wort und Tat? Wer darf aus christlichem Glauben ein bestimmtes Parteiprogramm ableiten? Wer könnte das überhaupt?“ Weizsäcker geht auch kurz auf den heute offiziell ungeliebtesten Satz des Ahlener Programms der CDU von 1947 ein - „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“- und merkt an, in den folgenden Jahrzehnten hätten „solche hehren Bekenntnisse den Siegeszug des Kapitalismus nicht aufgehalten, der heute bis über notwendige moralische Grenzlinien hinaus geführt hat“.

Dergleichen unvermittelt auftauchende, an das Ende einer Gedankenkette gestellte kritische Pointen sind kennzeichnend für das Buch wie überhaupt für seinen Verfasser. Richard von Weizsäcker ist, wie auch aus persönlicher Begegnung im kleinsten Kreis gesagt werden darf, ein Mann voller Bedachtsamkeit, von äußerlicher und innerer Disziplin, der die leisen Töne liebt und kultiviert - und sich dabei immer wieder mal erlaubt, plötzlich einen Seitenhieb anzubringen, scheinbar eine Nebenbemerkung, tatsächlich eine unterhalb der kleinen Bosheit, des abwertenden Urteils angesiedelte Aussage, die er sich nicht verkneifen will. Von dieser aristokratischen scharfen Zunge ist niemand sicher, jedenfalls nicht der Bundeskanzler Kohl.

In seinen Memoiren allerdings übt Weizsäcker Zurückhaltung. Sie zeigt sich unter anderem darin, daß dem Stichwort „Zusammenarbeit zwischen Kanzler und Präsidenten“ während einer immerhin zweimaligen Amtszeit ganze 47 Druckzeilen gewidmet sind. Was die bekannten kritischen Aussagen des Bundespräsidenten zur Finanzierung der deutschen Einheit betrifft, so offenbarten sich hier zwischen dem Kanzler und ihm nur „einige voneinander abweichende Einschätzungen“, stellt er diplomatisch fest und fügt generell hinzu: „Natürlich gab es dann und wann unterschiedliche Akzente.“ Insgesamt wird Helmut Kohl in dem Buch mit Respekt behandelt. Direkte Kritik ist die Ausnahme, so etwa im Zusammenhang mit der Oder-Neiße-Grenze: „Kohl hatte die Grenzfrage international eskalieren lassen, was aus psychologischen außenpolitischen Gründen besser unterblieben wäre.“

Bemerkenswert, wie er François Mitterrand gegen dessen deutschlandpolitische Widersacher in Schutz nimmt - bei der Vereinigung sei der französische Präsident kein Bremser gewesen, sondern habe „mitgewirkt, den Erdrutsch in eine vernünftige Richtung zu lenken“. Bei Werturteilen bleibt Weizsäcker sparsam. Es ist schon das äußerste, wenn er den US-Präsidenten Bush einen „Freund und Helfer von unschätzbarem Wert“ nennt und Außenminister Baker „ausgezeichnet“ findet. Im Streit über die Rolle Gorbatschows bei der deutschen Vereinigung, die vor allem dessen innenpolitische Gegner „nicht verziehen“ haben, zeigt er weitgehende Sympathie. Gorbatschow habe „eine unerhörte Leistung“ vollbracht, „den größten Mut zu beweisen und vor allem die schwerste Last zu tragen“ gehabt.

Kritik, auch wenn sie nicht mit Personen verbunden ist, kommt stets mit Understatement daher, ist „verpackt“. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Einschätzung der Stellung, die sich die vier bürgerlichen Parteien in der Bundesrepublik verschafft haben. Dazu heißt es, „mit ihrer Macht überlagern sie heute praktisch die fünf Verfassungsorgane“, also auch den Bundestag, den Bundesrat und den Bundespräsidenten. Im Klartext bedeutet dies, daß die faktische Macht der vier Parteien grundgesetzwidrig ist und zurechtgestutzt gehört - eine Forderung, die der Altbundespräsident in dieser Eindeutigkeit nicht erheben will, weil er damit wohl eine selbst gesetzte Grenze politischer Konzilianz überschreiten würde.

In anderem Zusammenhang wird er deutlicher. Gemeint ist die Passage über den Historikerstreit, der in der Bundesrepublik 1985 nach Weizsäckers Ansprache zum 8. Mai ausgebrochen war. Klare Worte: „Was soll uns die Untersuchung bedeuten, ob Auschwitz einen Vergleich mit der grausamen Ausrottung anderer Menschen aushalten könnte? Auschwitz ist singulär. Es geschah durch Deutsche. Die Wahrheit ist unumstößlich, sie wird nirgends vergessen und uns weiter begleiten.“ In principiis obsta - wehre den Anfängen einer Geschichtsklitterung! Der Humanist, Christ, Politiker weiß sehr wohl, wo ein unmißverständliches Wort am Platz ist.

Allenthalben in dem Lebensbericht erfährt man etwas von der Persönlichkeit des Verfassers, ohne daß er sich in den Vordergrund zu stellen versucht. Da kann aus dem geduldigen Zuhörer unvermittelt ein streitbarer Mann werden. Ein Beispiel ist die ebenso kurz wie eindringlich geschilderte Auseinandersetzung mit dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Fritz Berg, nachdem dieser die Göttinger Achtzehn wegen ihrer strikten Ablehnung der Mithilfe an atomarer Bewaffnung als überhebliche und verantwortungslose Intellektuelle diffamiert hatte. Weizsäcker, dessen Bruder Carl Friedrich die Göttinger Erklärung entworfen und mit unterzeichnet hatte, wendet sich „gegen den unverblümten Führungsanspruch der Wirtschaft“. Spitz spricht er von der „unbekümmerten Selbstverständlichkeit, die der BDI bei politischen Ansprüchen an den Tag legte“, was bekanntlich heute wie vor Jahrzehnten zutrifft, und teilt mit, Berg habe danach versucht, ihn für seine Firma anzuwerben. Auf gleicher Linie liegt „eine weitere kuriose Erfahrung“, nämlich der „ziemlich rasch“ gescheiterte Versuch des BDI-Hauptgeschäftsführers, ihn kurz vor der 1957er Bundestagswahl für den Übertritt von der CDU zur FDP zu gewinnen - man werde ihm ein sicheres Mandat verschaffen. „Da war er wieder, der verblüffende politische Verfügungsanspruch.“ Ein knapper, zurückhaltender Kommentar, der ebenso scharf trifft wie ein starkes Wort. Mit seinen Memoiren hat sich Richard von Weizsäcker sicherlich nicht nur Freunde gemacht. Gewiß, er geht mit jedermann fair um, doch falsche Rücksichtnahme ist ihm fremd.

Der Lebensbericht, der nun in dritter Auflage vorliegt, ist ein informierendes, wertendes, Erfahrungen vermittelndes und anrührendes Dokument. Es berührt uns, weil der Autor sein Herz öffnet, indem er sein Sinnen, Fühlen, Trachten und Handeln als Mensch und politisches Wesen darlegt, beider Einheit begründet und sich zum Humanismus bekennt. Darin liegt wohl seine eigentliche Vorbildwirkung. Der klassisch gebildete, dem traditionsbewußten deutschen Bildungsbürgertum zuzurechnende Richard von Weizsäcker hat ein sehr persönliches, sehr geschichtsbewußtes Lesebuch für unsere Zeit geschrieben. Man möchte es vor allen den jungen Leuten empfehlen, die an der Schwelle zum Erwachsensein nach Wertvorstellungen suchen und Toleranz erwarten. Weizsäcker kommt nicht als Missionar daher, sondern teilt schlicht mit, welch Glaubens er ist. Dies gehört zu seiner Ehrlichkeit. So wird ihn auch derjenige mit Bildungsgewinn und Vergnügen lesen, der seine religiöse Überzeugung nicht teilt, zumal viel Gedankengut des „heidnischen“ Altertums zu seinem geistigen Reichtum zählt.

Namentlich in seinen kurzen abschließenden Bemerkungen „In der Freiheit bestehen“ vereinen sich Bekenntnis und politische Wegweisung. Sie ist behutsam und unaufdringlich wie alles in diesem Buch. „Unsere Strukturen sind die Demokratie und der Markt“, sagt er und fordert dazu auf, Adam Smith’ Postulat eines freien Marktes in einem Staat sozialer Gerechtigkeit ernst zu nehmen, holt aber dieses große Wort gleich wieder auf den Boden des Möglichen zurück - soziale Gerechtigkeit als das „kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle“. Der Autor wird wohl lange mit sich zu Rate gegangen sein, ehe er sich zu dieser Reduktion auf ein Minimum entschloß.

Weizsäcker wendet sich gegen Politikverdrossenheit, jenes „unsägliche Wort“, das als Vorhang mißbraucht werden könne, „hinter den man sich in eine Privatisierung ohne Anteilnahme am Zusammenleben zurückzieht“. Fürchtet er, in einem Deutschland, wo das Bestreben offenkundig ist, „westdeutsche Wirklichkeit und nicht zuletzt westdeutsche Besitzstände zu wahren“, könnte sich eine neue, größere, von Egoismus ganz durchdrungene Nischengesellschaft etablieren? Er hält dagegen: „Wenn Freiheit das Geheimnis der Demokratie ist, dann ist es eine Freiheit zur Beteiligung und zur Mitverantwortung.“ Das Leben des Richard von Weizsäcker, von dem er erzählt, entspricht dieser Maxime. Kraft seiner Persönlichkeit hat er seine Möglichkeiten genutzt.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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