Eine Rezension von Herbert Mayer

Zeitgeschichtliche Erforschung der Nachkriegszeit

Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland

Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949.

Propyläen Verlag, Berlin 1997, 720 S.

 

Der Autor, geboren 1944 in Kalifornien, ist Professor der Geschichte am Robert and Florence McDonnell Institute of East European Studies und Leiter des Center for Russian und East European Studies an der Stanford-Universität. Er hat mit seinem voluminösen Werk, wie vom Verlag betont, wahrhaft Pionierarbeit geleistet. Mit Recht zieht er das Fazit: „Die Politik der sowjetischen Besatzungsmacht war weit komplexer und vielfältiger, als die Geschichtsschreibung sie bisher zumeist dargestellt hat.“ (S. 586, ähnlich S. 329) Diese Komplexität und Vielfalt versuchte er in acht, nach sachlichen Gesichtspunkten gegliederten Kapiteln (ergänzt mit einer Einführung und Schlußbetrachtung) zu bewältigen. Naimark behandelt in ihnen die Themenkreise Verwaltung; das „Vergewaltigungsproblem“; Reparationen, Demontage und Wirtschaftsentwicklung; Wissenschaft; die deutsche Linke; die Rolle Tulpanows; den „Aufbau des ostdeutschen Polizeistaates“ sowie die Kultur- und Bildungspolitik. Der thematische Aufbau ist durchaus gerechtfertigt, dennoch bringt die Darstellungsweise Naimarks einige Probleme mit sich. Nicht immer werden die Zusammenhänge genügend deutlich, Ursachen und Wirkung erkennbar, manches wird wiederholt, auch werden Unterschiede zwischen den Jahren verwischt.

Ein Vorzug des Werkes ist ohne Zweifel das erschlossene umfangreiche Material. Zudem gelingt es dem Autor meist, differenziert darzustellen und zu werten. Er stützt sich in seinen Darlegungen auf Materialien aus dem ZPA der SED (in der Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin), aus Partei- und Regierungsarchiven der UdSSR (SMAD, Außenministerium, ZK der KPdSU), vom Ostbüro der SPD sowie von westlichen Nachrichtendiensten. Daß beim Fehlen des Zugangs zum Archiv des russischen Präsidenten, des KGB und des sowjetischen Verteidigungsministeriums weiter Fragen ungeklärt bleiben müssen, versteht sich von selbst. Ist die Arbeit insgesamt materialreich, so trifft dies für die einzelnen Kapitel in unterschiedlichem Maße zu. Manches scheint vom Zufall getrieben (u. a. bei den Kapiteln Vergewaltigungen und deutsche Linke). Die Bekundung des Autors, daß er sich „sehr viel mehr auf Archivmaterial“ stützte als auf Interviews, Erinnerungen oder Sekundärliteratur (S. 10), kann so insgesamt nicht geteilt werden.

Gegenüber schablonenhaften Vorstellungen verdeutlicht Naimark (insbesondere im Kapitel 6), daß divergierende Einzel- und Gruppeninteressen langfristige sowjetische Interessen in Deutschland untergruben. Widersprüche bestanden zwischen der internationalen Politik der Sowjetunion, ihrer Besatzungspolitik insgesamt und ihrem Agieren in der SBZ im besonderen, auch zwischen ihren Motiven und konkreten Maßnahmen im einzelnen. Die unterschiedlichen Ziele der verschiedenen Behörden (SMA, Wirtschaftsministerium, KGB) führten deshalb zu verschiedenen Interessen und Kompetenzstreitigkeiten (z. B. an Demontagen war mehr das sowjetische Wirtschaftsministerium unter Mikojan als die Behörden in Berlin-Karlshorst interessiert; NKWD-Kommandos brachten die örtlichen und regionalen Kommandanten mit willkürlichen Verhaftungen in Schwierigkeiten). Naimark schließt sich jenen Auffassungen an, die von zwei Gruppen in der sowjetischen Führung ausgehen: der sogenannten Leningrader Gruppe um Tulpanow und Schdanow, die auf eine frühe Schaffung eines kommunistischen Teils Deutschlands setzten. Das entgegengesetzte Lager bildeten Schukow, Semjonow, Malenkow und Berija, die der Idee eines neutralisierten, antifaschistischen und vereinten Deutschlands zuneigten (S. 404 ff.). Überzogen scheint der Einfluß Tulpanows, des Leiters der SMAD-Verwaltung für Information bzw. Propaganda, dargestellt, dem er insgesamt die entscheidende Rolle bei der Realisierung der sowjetischen Deutschlandpolitik zumißt. Maßgebend gilt ihm Tulpanow auch bei der Umwandlung der SED in eine Partei neuen Typus und bei der Abkehr vom deutschen Weg zum Sozialismus (S. 326-435). Dennoch schätzt Naimark (wohl treffend) ein: „Es gibt keinen Grund, an der Ernsthaftigkeit sowjetischer Worte und Taten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zweifeln, aus denen die Absicht hervorging, die Einheit Deutschlands zu fördern und die Besetzung des Landes durch die vier Siegermächte zu beenden.“ Gleichzeitig bestätige z. B. die Art und Weise, in der die Polizeistruktur in Ostdeutsch land aufgebaut wurde, die These, „daß auch an Plänen für eine permanente Sowjetisierung der Besatzungszone gearbeitet wurde“ (S. 447).

In den Abschnitten zur Wirtschaftsproblematik hätte man sich mehr neue aussagekräftige sowjetische Quellen gewünscht. Unverständlich bleibt, warum Naimark dem Halbjahres- und Zweijahresplan kaum Beachtung schenkt. Auch seine Bewertung, daß die Bodenreform nur „sehr wenig mit den Junkern zu tun hatte“ und noch weniger mit Bauern, „die im großen und ganzen über genügend Land verfügten“ (S. 184), ist verwunderlich. Nicht zutreffend ist seine Auffassung, daß sich in der SED 1948 der Ruf nach Kollektivierung ausbreitete (S. 208). Im Kapitel über die Wissenschaft konzentriert sich der Autor vorwiegend auf die in der Rüstung (v. a. Atom- und Raketenwissenschaft) tätigen Wissenschaftler. Interessant ist seine Darstellung, wie die Sowjets in der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1946 deutsche Wissenschaftler mit ihren Familien zur Übersiedlung in die Sowjetunion zwangen.

Durchgängig zeigt Naimark ein Unbehagen der SED-Führung über ihre Abhängigkeit von der sowjetischen Militärregierung und teilweise über das sowjetische Vorgehen (z. B. S. 365). Ihr Interesse war, das Besatzungsregime weitgehend einzuschränken oder zumindest aus dem öffentlichen Blickfeld verschwinden zu lassen, um nicht mit unbeliebten sowjetischen Maßnahmen und Repressalien in Verbindung gebracht zu werden. „Zuweilen konnten die SED-Führer auf die Militärverwaltung Druck ausüben und ihnen nahestehende Sowjetoffiziere veranlassen, etwas zu unternehmen, wenn sich andere in der Verwaltung allzuviel Zeit ließen. Insgesamt jedoch konnte die SED-Führung lediglich Bitten äußern und Anstöße geben, nicht aber Forderungen stellen und auf Rechte pochen.“ (S. 368) Durch ihr Verhalten („als Werkzeug Moskaus“) habe sich die SED jede Chance genommen, als Partei die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands entscheidend zu beeinflussen (u. a. S. 585 ff.). Überdenkenswert, aber nicht überzeugend belegt, ist die Ansicht von Naimark, daß sich in der Reaktion auf den Kalten Krieg in der SED-Führung zwei Richtungen zeigten: 1. Ulbricht, Pieck, Dahlem konzentrierten sich auf wirtschaftliche Probleme des Ostens und weniger auf Fragen der deutschen Einheit und der Westzonen; 2. Ackermann, Fechner und Meier hielten hingegen die deutsche Einheit für die zentrale politische Frage, von deren Lösung alle anderen Fragen abhängig wären (S. 381 ff.). Zur Entwicklung der SED zur Partei neuen Typus werden gegenüber den Veröffentlichungen der letzten Jahre kaum neue Erkenntnisse gewonnen, was dem Zufall in der Auswahl an Dokumenten zur SED und an sowjetischen Quellen geschuldet sein mag. Zudem widerspricht sich Naimark in seinen Einschätzungen. So konstatiert er, daß die SED spätestens seit Frühjahr 1948 auf dem Wege zur Partei neuen Typs war und sich mit der 1. Parteikonferenz 1949 nun als Partei neuen Typus institutionalisiert habe (S. 395). Andererseits spricht er davon, daß zu Beginn des Jahres 1949 „umgehend mit der Bolschewisierung der SED begonnen“ wurde (S. 398).

Dem Kapitel Vergewaltigungen (nach seiner Schätzung waren wahrscheinlich Hunderttausende Frauen betroffen) hat Naimark unproportional viel Platz gewidmet. Das wird um so deutlicher, da er wenig sowjetische Originalquellen verwendete, die zudem teilweise meist veröffentlicht waren und oft auch nur allgemeine Aussagen enthalten. Obwohl die sowjetische militärische Führung rabiat gegen diese und andere kriminelle Verbrechen (so Plünderungen, Raubüberfälle, Korruption) vorgegangen war, erwies sie sich unfähig, die Soldaten unter Kontrolle zu halten. Die SED hatte kein Interesse, das Thema öffentlich zu thematisieren, obwohl sie sich intern bei sowjetischen Vertretern beschwerte.

Zu bemängeln sind einige grobe inhaltliche Fehler und sachliche Unzulänglichkeiten: so, wenn er den Landkreis Schwarzenberg aus den Bezirken Aue, Schneeberg, Schwarzenberg und Johanngeorgenstadt bestehen läßt (S. 337), Kurt Liebknecht zum Sohn des „berühmten Kommunisten“ Wilhelm Liebknecht (S. 361) wird, wenn als größte Antifaschule Krasnojarsk (statt Krasnogorsk) genannt und die Auflösung des NKFD auf Mai (statt November) 1945 verlegt wird.

Naimark resümiert, daß Stalins Politik nicht von Anfang an auf die Eingliederung der SBZ in das sowjetische Machtimperium gerichtet war, vielmehr favorisierte er ein neutrales und entmilitarisiertes Deutschland: Es gab „keinen Gesamtplan für die politische Entwicklung der Besatzungszone, jedenfalls nichts, was sich mit JCS 1067 vergleichen ließe, einem regierungsamtlichen Papier der USA, in dem erläutert wurde, wie die Politik gegenüber dem besetzten Deutschland aussehen solle“ (S. 586). Die DDR sieht Naimark als ein Ergebnis der Interaktion von Russen und Deutschen in der SBZ: „Ihre Erfolge, ihre Fehlschläge und schließlich ihr Zusammenbruch leiten sich sämtlich von den anfänglichen Institutionen und Interaktionsformen her, die in der unmittelbaren Nachkriegsperiode entstanden waren.“ Die sowjetische Besatzungspolitik sei „alles andere als eine isolierte Episode im Strom der deutschen Geschichte, die man jetzt, nach der Vollendung der Wiedervereinigung, getrost außer acht lassen und vergessen könnte. Die Geschichte der sowjetischen Besatzung ist vielmehr eine Schlüsselkomponente für das Verständnis von Gegenwart und Zukunft der deutschen Gesellschaft.“ (S. 590)

Abschließend sei nicht nur am Rande vermerkt, daß dem Autor für seine Forschungen von Bundespräsident Herzog das Verdienstkreuz 1. Klasse verliehen wurde und die Übersetzung des Bandes mit „freundlicher Unterstützung des Auswärtigen Amtes, Bonn“ erfolgte.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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