Eine Rezension von Horst Wagner

Plädoyer für eine sozialistische Moderne

Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e. V. (Hrsg.): Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus

Ein Kommentar.

Dietz Verlag BERLIN, Berlin 1997, 366 S.

 

Der Sozialismus (bzw. was sich da „real existierender“ nannte) ist, zumindest in Europa, kläglich gescheitert. Die SED trägt an seinem Zusammenbruch in Ostdeutschland ein gerüttelt Maß Schuld. Die Partei, die als Nachfolgerin der SED gesehen wird und in ihrem Namen das Wort Sozialismus führt, muß also nicht nur eine Politik verfolgen, die sich grundlegend von der ihrer Vorgängerin unterscheidet. Sie muß auch versuchen, plausibel zu erklären, warum das marxistisch-leninistische Sozialismusmodell gescheitert ist, ob es nur an untauglichen Methoden zu seiner Verwirklichung lag oder die Fehler schon im theoretischen Ansatz bestanden, welche anderen, neuen Zielvorstellungen sie vom Sozialismus hat, und wie sie sich in ihrem Selbstverständnis von den staatssozialistischen Parteien unterscheidet. Dieser nicht leichten Aufgabe haben sich die Autoren des vorliegenden Kommentars Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus - André und Michael Brie, Judith Dellheim, Thomas Falkner, Dieter Klein, Michael Schumann und Dietmar Wittich - gestellt. Es ist ihnen, das sei vorweggenommen, in recht unterschiedlicher Qualität gelungen. Manches scheint gründlich durchdacht, anderes noch recht unausgegoren. Zuweilen gibt es in unterschiedlichen Kapiteln widersprüchliche Aussagen zur gleichen Sache. Wiederholungen sind ebenso zu bemerken wie das Weglassen oder die ungenügende Behandlung wichtiger, in der Diskussion befindlicher Fragen. Das Buch will, wie PDS-Vorsitzender Bisky im Vorwort betont, keine „verbindliche Auslegung“ des Programms sein, sondern als ein Angebot zur Diskussion verstanden werden. Und doch ist es mehr als ein Kommentar zu einzelnen Programmpunkten. Es ist der Versuch einer zusammenfassenden theoretischen Darstellung, was - zumindest nach Auffassung des sogenannten Reformflügels in der PDS - unter modernem Sozialismus und einer modernen sozialistischen Partei zu verstehen ist, mit wem und wie sozialistische Ziele unter heutigen Bedingungen zu verwirklichen sind. Schon insofern wäre es gut, wenn dieses Diskussionsangebot in und außerhalb der PDS größere Aufmerksamkeit fände, als es in der Zeit seit Erscheinen des Kommentars offensichtlich der Fall war.

Besonders interessant und weiterer Diskussion wert sind die im ersten und zweiten Kapitel beschriebenen Zielvorstellungen. Wie das im Januar 1993 beschlossene Parteiprogramm beschreibt auch der Kommentar Sozialismus als Ziel, als politisch-soziale Bewegung und als „ideologische Orientierung auf bestimmte Werte“ (S. 24). Neu gegenüber dem Programm ist, daß der Begriff „Moderne“ hinsichtlich heutiger und zukünftiger Gesellschaften den Rang eines Schlüsselwortes erhält; ein Begriff, der in dieser Bedeutung auch in der PDS nicht unumstritten sein dürfte. Die gegenwärtige Gesellschaft wird dabei sowohl als kapitalistisch als auch als modern beschrieben, wobei „der Begriff Kapitalismus auf die Herrschaftsverhältnisse ... zielt“, der Begriff „Moderne auf die besondere Bewegungsweise dieser Gesellschaft“ (S. 27). Unter letzterem wird von den Autoren vor allem die Fähigkeit zu ständiger Entwicklung und Veränderung sowie die pluralistische Demokratie verstanden. An diesen „modernen“ Faktoren soll als Errungenschaft festgehalten werden, während die Herrschaftsverhältnisse verändert, die Vorherrschaft des Profitprinzips gebrochen werden sollen und so als Ziel eine „sozialistische Moderne“ postuliert wird. Zu ihr werden „Vollbeschäftigung im Sinne einer flexiblen Erwerbstätigkeit“ (S. 166), soziale Gerechtigkeit und ökologischer Umbau der Gesellschaft ebenso gerechnet wie der „Aufbruch zu neuen Lebensweisen“, bei denen „mehr freie Zeit und ein reicherer Sinn des Lebens wichtiger werden als die irre Jagd nach ständig steigendem materiellen Konsum“ (S. 150). Während das Programm nur kurz von „unterschiedlichen Auffassungen“ darüber spricht, wie „die von Profit- und Kapitalverwertung bestimmte Entwicklung der Volkswirtschaften und Gesellschaften zugunsten einer Entwicklung zu überwinden (ist), die von der Verwirklichung gemeinschaftlicher Interessen geprägt ist“, beschreibt der Kommentar ausführlich, daß nicht das Kapitaleigentum, sondern nur die „Dominanz des Profits als Grundmaß aller Dinge“ überwunden werden soll (S. 123). Einen „Pluralismus der Eigentumsformen“ (S. 131 f.) als wünschenswert ansehend, nennt der Kommentar „nicht vorwiegend Enteignung“ als Ziel, „sondern die Veränderung des Rahmens für die Ausübung der Verfügungsrechte über das Eigentum“ (S. 128). Gestützt z. B. auf Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes, daß der Gebrauch des Eigentums „zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“ soll, könne dies, so die Autoren, durch neue politische Mehrheiten, „durch langwierige und harte außerparlamentarische und parlamentarische Kämpfe“ erreicht werden (S. 131), wobei sie sich entschieden gegen die Vorstellung wenden, „daß sozialistische Veränderungen erst jenseits des Kapitalismus beginnen können“ (S. 145). Die begriffliche Trennung zwischen Eigentum und Verfügbarkeit über dieses (§ 903 BGB bestimmt bekanntlich, daß der Eigentümer einer Sache mit dieser „nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“ kann, „soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen“) wird sicher noch weiterer Überlegung und Ausarbeitung bedürfen. Auch wird sich mancher fragen, ob die Autoren nicht den Einfluß mächtiger Eigentümer auf politische Entscheidungen und Mehrheitsbildungen unterschätzen und ob Feststellungen wie „im Infrastrukturbereich wird die Bedeutung des öffentlichen Eigentums weitgehend anerkannt“ (S. 132) angesichts jüngster Entwicklungen nicht bloße Wunschvorstellungen sind.

Unbestritten dagegen sollte sein, daß die Konzentration der Verfügungsgewalt über das sogenannte gesellschaftliche Eigentum in den Händen praktisch der Partei- und Staatsführung und die damit verbundene Überzentralisation der Planung und Leitung neben dem Mangel an Demokratie eine der entscheidenden Ursachen für das Scheitern des Sozialismus in der DDR gewesen ist. Zustimmung verdient auch die im Kommentar ausführlich begründete Prämisse, daß der Aufbau einer neuen sozial gerechten Gesellschaftsordnung nur bei Akzeptanz durch eine breite Mehrheit der Bevölkerung auf demokratischem Wege bei Meinungsvielfalt und durch Erweiterung, nicht Einschränkung, der Menschenrechte möglich ist. Anzuerkennen ist auch das Bemühen der Autoren, eine kritische Wertung der aus der marxistischen Tradition bzw. aus dem Marxismus-Leninismus überkommenen Kategorien vorzunehmen. Neben der schon erwähnten Eigentumsfrage trifft das vor allem auf Begriffe wie Klassen und Klassenkampf sowie die historische Mission der Arbeiterklasse zu. Der Klassenkampf wird in seiner Bedeutung für das Verständnis sozialer Prozesse nicht geleugnet, aber auch betont, daß er zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungen nicht ausreicht. Den Klassenbegriff in seiner dogmatischen Ausformung durch den Marxismus-Leninismus auf moderne Gesellschaften anzuwenden bereitete schon Gesellschaftswissenschaftlern und Propagandisten in der DDR zunehmende Schwierigkeit. So einleuchtend und differenziert die heutige Sozialstruktur der BRD im Kommentar geschildert wird - die angebotene Einteilung in „real Lohnabhängige, lohnabhängige Mittelschichten, selbständige Mittelschichten, Selbstausbeuter, bürgerliche Oberschicht“ (S.221) hätte wohl eine bessere theoretische Begründung verdient. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang auch, ob nicht die zu DDR-Zeiten in Grundlagenstudium und Parteilehrjahr weit verbreitete Leninsche Klassendefinition (aus Die große Initiative), die neben dem Anteil am gesellschaftlichen Reichtum vor allem das Verhältnis zu den Produktionsmitteln, aber auch den „Platz in einem geschichtlich bestimmten System“ und die „Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit“ als Kriterien nennt, eine Aufhebung im Hegelschen Sinne, also im Sinne einer kritischen Überwindung und Weiterentwicklung, verdient hätte. Einleuchtend wird im Kommentar begründet, daß heutige Machtverhältnisse und eine sich weiter differenzierende Sozialstruktur zu einer Entsolidarisierung führen und daß von einer Arbeiterklasse im klassischen marxistischen Sinne nicht gesprochen werden kann, schon gar nicht von ihrer historischen Mission. Weiterer Überlegung bedarf sicher die Frage, wie es denn heute um den subjektiven Faktor für objektiv notwendige soziale Veränderungen steht. Der Gedanke, daß innerhalb der Lohnabhängigen vor allem die Informatiker und Technologen „über Potentiale von Gegenmacht“ verfügen (S. 240), ist sicher interessant, vermag aber ohne nähere Erklärung nicht zu überzeugen.

Im Kommentar wird zwar mehrmals der Satz aus dem Kommunistischen Manifest von der neuen Gesellschaft als einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, zitiert. Eine Sentenz übrigens, die ohne die bei Marx und Engels vorangehenden Prämissen - Sturz der Kapitalherrschaft, Aufhebung der Klassen - wohl auch die meisten Liberalen unterschreiben würden. Eine eigene theoretische Erörterung über Wesen, soziale Wurzeln und Grenzen der Freiheit bleibt aber aus. Auch wäre es sicher interessant gewesen zu erfahren, was denn nun an der zu DDR-Zeiten stark strapazierten These von der allseitig entwickelten Persönlichkeit (auf die oft die Diskussionen über Freiheit und gesellschaftlichen Fortschritt hinausliefen) richtig oder falsch ist. Das abschließende Kapitel „Herkunft, Anspruch und Selbstverständnis der PDS“ arbeitet zu Recht den Bruch mit dem Stalinismus, die Abgrenzung von Begriffen wie Avantgarde, führende Rolle usw. heraus, lenkt auf Stärken, aber auch auf Schwächen der PDS und gibt einen guten Überblick über Entwicklungsabschnitte der Partei und ihre wichtigsten Beschlüsse. In diesem Zusammenhang hätte man sich freilich detailreichere Aussagen über Ursachen und Hintergründe der Zerstrittenheit unter den Linken, aber auch zu Gemeinsamkeiten und prinzipiellen Unterschieden von SPD und PDS gewünscht.

Der Auflockerung und Hintergrundinformation dienen zahlreiche Grafiken und Einschübe, mit denen allerdings gestalterisch nicht immer sorgfältig umgegangen wird. Der Stil der einzelnen Texte ist hinsichtlich Klarheit und Verständlichkeit unterschiedlich, so daß einem zuweilen die eingefügten Zitate von Marx, Engels oder auch Gregor Gysi geradezu als Beispiele für Originalität und Klarheit erscheinen. Der Anhang zeichnet sich durch ein umfangreiches Literatur- und Personenverzeichnis aus. Kurze biographische Angaben zu den Autoren werden vermißt. Bei allen kritischen Einwänden - der Kommentar trägt sicher auf seine Weise, um auf Biskys Vorwort zurückzukommen, zur „notwendigen Neuaneignung der sozialistischen Traditionen und ihrer Wandlungen“ bei.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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