Eine Rezension von Ferdinand Zimmer

Wendeschicksale

Martin Diewald/Karl Ulrich Mayer (Hrsg.): Zwischenbilanz der Wiedervereinigung

Strukturwandel und Mobilität im Transformationsprozeß.

Reihe „Sozialstrukturanalyse“. Hrsg. von Stefan Hradil. Band 8.

Leske + Budrich, Opladen 1996, 352 S.

 

Der Band enthält Materialien der Tagung der Sektion „Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Berlin, 30. September/1. Oktober 1994), die durch einige bisher unveröffentlichte Beiträge ergänzt wurden. Behandelt werden Erwerbsverläufe und berufliche Mobilität (Teil 1), Einkommensmobilität (Teil 2), die subjektive Verarbeitung veränderter Lebensbedingungen (Teil 3) sowie Resümees der verschiedenen Entwicklungen (Teil 4). Verfaßt wurde er von 25 Autoren aus Deutschland, den USA und Polen: zumeist Soziologen, Sozialforscher, Bildungsforscher, Wirtschaftsforscher, Politikwissenschaftler.

Der Schwerpunkt Erwerbsverläufe umfaßt Beiträge über Berufsverläufe, soziale Mobilität, Elitenimport nach Ostdeutschland, Existenzgründungen, Ungleichheiten und institutionelle Rahmenbedingungen sowie über polnische Erfahrungen zu diesen Verläufen.

Ausgangspunkt ist die Analyse der berufsstrukturellen wie auch berufsbiographischen Grundlagen, wie sie in der DDR-Planwirtschaft gelegt wurden. Mit der Wirtschafts- und Währungsunion setzten zum einen eine Schrumpfung und zum andern ein Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft ein. Der durch die Wende bedingte Transformationsprozeß ist Gegenstand der vorliegenden soziologischen Untersuchungen.

„Der überraschende Verlust der Vollerwerbstätigkeit war für die ostdeutschen Erwerbspersonen (Frauen wie Männer) das entscheidende Problem im Untersuchungszeitraum und beeinträchtigte nachhaltig ihr Wohlbefinden und das der Haushaltsmitglieder.“ (S. 47) Die Analysen ergaben, daß mit der zunehmenden Dauer fehlender Vollerwerbstätigkeit die Zufriedenheit geringer, die Sorgen größer werden und überhaupt das Vertrauen in die Zukunft schwindet.

Probleme ergeben sich daraus, daß es sich beim Vereinigungsprozeß politisch und juristisch um einen Beitritt gehandelt hat. Es gehe nicht um irgendeine Modernisierung, sondern um die „Übernahme genau der westdeutschen Strukturen und Institutionen, was in kritischer Absicht auch als ,Anschluß‘ oder ,Einverleibung‘ bezeichnet worden ist“ (S. 64). Wenngleich der DDR-Staat verschwunden ist, so sind jedoch Mentalitäten und Lebensläufe der Bürger geblieben und prägen den Transformationsprozeß. Andererseits können die gemeinsamen deutschen Traditionen nicht außer acht gelassen werden. Der Transformationsprozeß ist sowohl durch Umbrüche als auch durch Stabilitäten charakterisiert.

Verlierer der deutsch-deutschen Vereinigung sind vor allem Frauen, un- und angelernte Arbeitskräfte und ältere Arbeitnehmer - sie sind beispielsweise bei den nach der Wende erfolgten Existenzgründungen in Ostdeutschland bedeutend geringer vertreten. So wird direkt eine „Ausgrenzung der Frauen aus dem Erwerbsleben“ (S. 136) konstatiert.

Der Schwerpunkt Einkommensmobilität umfaßt Beiträge über deren Entwicklung in den neuen Bundesländern sowie über Aufsteiger und Absteiger von 1989 bis 1993. Die Lohnstruktur wird sich künftig weiter differenzieren. Damit werden sich die Einkommensunterschiede vergrößern. Zum Schwerpunkt der subjektiven Verarbeitung veränderter Lebensbedingungen gibt es Untersuchungen über den Zusammenhang von alltäglicher Lebensführung und beruflicher Veränderung (hierzu sind konkrete Fallbeispiele angeführt), das Demokratieverständnis (auf der Grundlage einer Thüringer Fallstudie, 1992-1995) und Wendeschicksale nach 1989.

Was den viertgenannten Schwerpunkt betrifft, so konzentriert er sich auf Fragen der Interessenvertretung, der Umbrüche im ostdeutschen Ungleichheitsgefüge, der Chancen einer offenen Gesellschaft, des Entwicklungstempos in Ost- und Westdeutschland.

Eine resümierende Zwischenbilanz geht davon aus, daß die Transformationsprozesse aus dem Westen gesteuert sind, sie weitgehend interventionistisch durchgesetzt wurden, die Transformation nach dem Schema West erfolgt und es für Ostdeutschland weder einen Sonderweg noch ein Sonderziel zwischen Dauermalaise und vollständiger Angleichung der Lebensverhältnisse gibt (S. 343).

Insgesamt handelt es sich um eine materialreiche, informative und anregende Analyse, die versucht, den unterschiedlichen Wendeschicksalen gerecht zu werden. Da es sich bei der Transformation in Ostdeutschland um einen noch andauernden Veränderungsprozeß handelt, können offenbar auch keine abschließenden Antworten auf viele aufgeworfene Fragen erwartet werden. Jedoch dürfte die vorliegende Zwischenbilanz gewiß nicht nur für Soziologen interessant sein, greift sie doch wichtige Entwicklungsprobleme auf, die von gesamtgesellschaftlichem Interesse sind. Die Diskussion sozialer und politischer Fragen wird wesentlich bereichert.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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