Eine Rezension von Gerhard Keiderling

„Selbstsowjetisierung“ der SBZ-Universitäten?

Pjotr L. Nikitin: Zwischen Dogma und gesundem Menschenverstand. Wie ich die Universitäten der deutschen Besatzungszone „sowjetisierte“.

Erinnerungen des Sektorenleiters Hochschulen und Wissenschaft der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (Edition Bildung und Wissenschaft; 6)

Akademie Verlag, Berlin 1997, 284 S.

Nikitins Erinnerungen an seine SMAD-Zeit sind eine lebendige Chronik des schicksalhaften Nachkriegskapitels in Ostdeutschland. Er entschloß sich sehr spät zur Niederschrift. Eine Zeitzeugentagung zur Hochschulgeschichte der SBZ im Jahre 1992 nahe Berlin - da existierte der Staat, den er damals mit auf die Beine stellen half, nicht mehr - gab den Ausschlag. Mit beachtenswerter Gründlichkeit brachte er seine Erinnerungen zu Papier, wobei ihm sein während der Arbeiten verstorbener Sohn Andrei als Archivar und Historiker beim Zugang des bislang verschlossenen SMAD-Archivs in Moskau und bei Recherchen mit Rat und Tat zur Seite stand. Das Ergebnis beeindruckt ob der Detailfülle und des Umfangs und stellt alles, was es früher auf diesem Gebiete an Erinnerungen gegeben hat (z. B. Alexander Dymschitz, Sergei Tjulpanow, Grigori Weiß und das eine oder andere in Erinnerungsberichten für Sammelbände) in den Schatten. Vor allem besticht die Ehrlichkeit, mit der Nikitin an die „Bewältigung“ dieser seiner Lebensperiode herangeht. Er schiebt das ganze Brimborium marxistisch-leninistischer Pflichtübungen und Verbeugungen vor den hehren Zielen des „proletarischen Internationalismus“ und der „unverbrüchlichen deutsch-sowjetischen Freundschaft“, das in der Vergangenheit eine authentische Sicht verstellte, mutig beiseite.

Der autobiographische Bogen spannt sich vom Einrücken des frisch dissertierten Physikers in den Krieg im Juni 1941 bis zur Heimkehr nach Moskau im Oktober 1952. Dazwischen lagen aufregende Jahre an der Front und im sowjetisch besetzten Deutschland. Ende Juli 1945 - im Alter von 33 Jahren - wurde Nikitin Mitarbeiter in der von P. W. Solotuchin (im Zivilberuf Historiker und vor dem Kriege Rektor der Universität Leningrad) geleiteten Abteilung Volksbildung der SMAD und übernahm 1946 die Leitung des Sektors Wissenschaftliche Einrichtungen, zu dem 1948 die Hochschulen dazukamen. Kenntnisreich, durch Archivalien und persönliche Eindrücke ergänzt, schildert Nikitin Aufbau und Arbeitsweise der SMAD-Abteilung Volksbildung und nach 1949 der Sowjetischen Kontrollkommission, die allgemeine Lage im Hochschul- und Wissenschaftsbereich der SBZ, die Wiedereröffnung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin sowie die Vorgeschichte der von der Deutschen Wirtschaftskommission am 31. März 1949 erlassenen Kulturverordnung.

Begegnungen mit namhaften deutschen Hochschullehrern und Wissenschaftlern und natürlich auch mit den zuständigen SED-Funktionären werden lebendig. Immer wieder ist die Rede von der großen Wertschätzung der deutschen Wissenschaften und ihrer Repräsentanten, ungeachtet ihres Mißbrauchs durch den Nationalsozialismus. Daher ist die Sorge der „Hochschuloffiziere“ um die Sicherung der materiellen Grundlagen des Forschungs- und Lehrbetriebs, um die Wiederherstellung wissenschaftlicher Kontakte und um die soziale Absicherung der Hochschullehrer und Wissenschaftler überzeugend. Offen werden Fehler und Übergriffe, wie die Diskriminierung von Vertretern der „alten“ bürgerlichen Intelligenz oder die Relegation von „reaktionären“ Studenten, eingeräumt.

Die Quintessenz von Nikitins Erinnerungen lautet: Nicht die SMAD habe das Modell der Sowjetuniversität auf dem Befehlswege übertragen, die SED selbst sei es gewesen, die mit ihrem 1947/48 eingeschlagenen Kurs zur „Partei neuen Typus“ die Tür zu „einer wirklichen Sowjetisierung Ostdeutschlands“ (S. 90) aufgestoßen habe. Begründet wird dies mit dem großen Respekt der „Hochschuloffiziere“ vor dem deutschen bürgerlichen Wissenschaftssystem, mit „Freiräumen“, über die die SMAD-Abteilung Volksbildung anfangs verfügt habe, und mit Rücksichtnahmen auf die Vierer-Verwaltung Deutschlands. Diese persönliche Meinung eines ehemaligen Hauptakteurs wird die Forschung in eine Relation zu bisherigen Erkenntnissen und zu weiteren Quellenstudien zu bringen haben.

Im Schlußteil geht Nikitin ausführlich auf das Alliierte Bildungskomitee des Alliierten Kontrollrates in Deutschland ein, dem er von August 1945 bis März 1948 angehörte. Programm und Tätigkeit des Organs, das in diesem Zeitraum 43 Sitzungen durchführte, beeindrucken ebenso wie die Tatsache, daß „nicht ein einziger der sowjetischen Vorschläge“ abgelehnt worden sei (S. 168). Unabhängig von dem, was das Bildungskomitee realpolitisch bewerkstelligen konnte, habe es nach Nikitin unter den Bedingungen des ausbrechenden Kalten Krieges sein Bestes geleistet: „Von Anfang an haben wir uns mehr mit der Suche nach für alle Seiten annehmbaren Formulierungen als nach zu bestimmten Handlungen verpflichtenden Beschlüssen beschäftigt. Eben auf diesem Wege erreichten wir unsere Erfolge und erlitten wir unsere Niederlagen.“ (S. 162)


© Edition Luisenstadt, 1998
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