Eine Rezension von Max Klausner

Ein verspätetes Grundlagenbuch über DDR-Rock

Peter Wicke/Lothar Müller (Hrsg.): Rockmusik und Politik - Analysen, Interviews und Dokumente

Eine Publikation des Ch. Links Verlages und der Berliner Zeitung.
Forschungen zur DDR-Geschichte, 7.
Christoph Links Verlag, Berlin 1996, 277 S.

„Es gibt ihn immer noch, den Ost-Rock, auch wenn er zwischenzeitlich schon für tot erklärt worden ist, zumal ihm kurz nach der Wende das Publikum gänzlich abhanden gekommen zu sein schien. Der Kampf durch den Dschungel der DDR-Kulturbürokratie hat offensichtlich widerstandsfähiger gemacht, als viele Kommentatoren seinerzeit wahrhaben wollten.“ Peter Wicke weiß, wovon er schreibt. Er war schon zu DDR-Zeiten als Leiter des Forschungszentrums Populäre Musik am Bereich Musikwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität und Europa-Direktor des International Communication and Youth Culture Consortium der einzige Promovierte weit und breit in Ostdeutschland, der sich berufsmäßig mit der Entwicklung des Rock befaßte und darüber einige Bücher publizierte, so das gemeinsam mit Wieland Ziegenrücker erstellte Handbuch der populären Musik - Rock Pop Jazz Folk (1985), Rockmusik (1987) und Anatomie des Rock (1987).

Rockmusik und Politik knüpft an diese Tradition an. Stand jedoch in früheren Wicke-Publikationen der internationale Rock mit seinen Trends im Blickpunkt, so geht es diesmal - großzügig gefördert durch die Stiftung Kulturfonds - ausschließlich um die Aufarbeitung der DDR-Rockszene im historischen Rückblick. Daß „diese Form geschichtlicher Aufarbeitung ... immer und unvermeidbar einem Selektions- und Umdeutungsprozeß unterworfen“ ist, betonen die Herausgeber schon im „Vorwort“ zu Recht: „Der Zugang auf Vergangenheit gewordene Wirklichkeit ist in der persönlichen Rückschau subjektiv und einseitig, wohl um so mehr ist Verantwortung daran geknüpft.“ (S. 8) Dieser - wissenschaftlichen und moralischen - Verantwortung sind die Herausgeber gerecht geworden, so daß das bislang fundierteste, materialreichste und auch originellste Buch über die Rockszene der DDR entstehen konnte.

Zweifellos haben erst die Öffnung der Archive nach dem Untergang der DDR und die grundlegend veränderte kulturpolitische Situation die entscheidenden Voraussetzungen dafür geschaffen. Das trifft insbesondere auf die gründlichen, stichhaltigen, lebendig geschriebenen Analysen im Teil I zu, von denen keine einzige vor 1990 in dieser Form möglich gewesen wäre: „Zwischen Förderung und Reglementierung - Rockmusik im System der DDR-Kulturbürokratie“ von Peter Wicke, „Ohr an der Masse - Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi“ von Michael Rauhut sowie „Die ,anderen Bands‘ und ihre Kassettenproduktionen - Zwischen organisiertem Kulturbetrieb und selbstorganisierten Kulturformen“ von Susanne Binas. Konzeptioneller Ausgangspunkt der Untersuchung ist Peter Wickes These: „Die DDR-Gesellschaft ist nach dem Organisationsprinzip aufgebaut gewesen. Organisationen regelten die Beteiligung an der Gesellschaft und fungierten zugleich als soziales und politisches Kontrollinstrument ... Jede Art spontan entstehender und kommerziell vermittelter Kultur - und in der Rockmusik verkörperte sich gleich beides - mußte hier in Konflikt geraten. Dieser Konflikt war systemintern auch nicht lösbar, denn das hätte eine Aufgabe des Organisationsprinzips und die Anerkennung selbstorganisatorischer Potenzen in der Gesellschaft zur Voraussetzung gehabt. Er konnte allenfalls hinter immer wieder neuen Kompromissen verborgen werden - und eben das ist geschehen.“ (S.17) Genau dieser Konflikt durchzieht das ganze Buch und drängt die eingangs von Peter Wicke aufgeworfenen Fragen der Ästhetik in der DDR-Rockszene, wie sie zum Beispiel im Interview mit Luise Mirsch, Rockproduzentin des Rundfunks der DDR, anklingen, allzusehr zurück. Schade.

Originell im Teil II sind die elf Gespräche mit ehemaligen Verantwortungsträgern und Repräsentanten der wichtigsten Institutionen, die für die Entwicklung der DDR-Rockmusik verantwortlich zeichneten. Diese Gespräche, vom Herbst 1994 bis Frühjahr 1995 unter Leitung Peter Wickes von Mitarbeitern des Forschungszentrums Populäre Musik am Bereich Musikwissenschaft der Humboldt-Universität durchgeführt, sind insgesamt ein Gewinn, denn sie lassen Alltagsarbeit erkennen, in der zum Beispiel im Rundfunk der DDR Rockmusik entstand. An manchen Stellen jedoch - vor allem dann, wenn Mitarbeiter ehemaliger kulturpolitischer Instanzen befragt werden - entstehen zwiespältige Eindrücke und Ergebnisse: Einesteils sind die Fragen mitunter nicht sehr objektiv gestellt, den Gesprächspartnern wird (am häufigsten wohl bei Bodo Zabel, Leiter der Abteilung Unterhaltungskunst im Ministerium für Kultur der DDR) die erwartete Antwort reichlich unverhohlen in den Mund gelegt; andererseits versuchen die Mitarbeiter des ehemaligen kulturpolitischen Machtapparates (am deutlichsten wiederum Bodo Zabel), sich so weit wie möglich ihrer einstmaligen Verantwortung zu entziehen.

Teil III bringt acht „Dokumente“ zum Nachlesen: vom „Positionspapier der Abteilung Kultur des Zentralrates der FDJ zur Tanzmusik“ aus dem Jahre 1971 über die „Argumentation der Abteilung Kultur des ZK der SED zur Rockmusik“ (1982) und die „Vorlage des Ministeriums für Kultur zur Tanz- und Unterhaltungsmusik“ (1985) bis zur „Resolution von Rockmusikern und Liedermachern zur inneren Situation und zum Aufruf des Neuen Forum“ vom 18. September 1989. Auch der „Anhang“ sollte nicht einfach übersehen werden: Er enthält - neben Personenregister, Abkürzungsverzeichnis und Bandregister - eine zehnseitige Auflistung „Der bürokratische Apparat“ in der Kultur- und Medienpolitik der DDR, die von der Abteilung Agitation des ZK der SED über das Komitee für Unterhaltungskunst und seine Generaldirektion bis zum Zentralhaus für Kulturarbeit, den Zentralrat der FDJ und die Zulassungskommission für die Einstufung von Amateurmusikern reicht; zum anderen eine Aufstellung aller recherchierbaren DDR-Bands von AG Geige und Antitrott bis WIR, WK 13, Wutanfall und Zwecklos.

In die Reihe „Forschungen zur DDR-Geschichte“, die der Christoph Links Verlag zusammen mit der Berliner Zeitung unterhält, ordnet sich Rockmusik und Politik als kulturpolitische Publikation gut ein.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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