Eine Rezension von Klaus Ziermann

Ein Günter Grass in allen seinen leuchtenden Farben

Volker Neuhaus: Schreiben gegen die verstreichende Zeit
Zu Leben und Werk von Günter Grass.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, 239 S.

Wer seinen Stoff souverän beherrscht, braucht nicht viele Worte zu verlieren - zumindest keine leeren. Das kann getrost von Volker Neuhaus' dtv-Originalausgabe zu Leben und Werk von Günter Grass gesagt werden: Der Professor für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln hat seit 1970 über Günter Grass geforscht, 1979 eine wissenschaftliche Grass-Monographie vorgelegt, die 1993 eine zweite Auflage erlebte, und sich seit 1987 als erfolgreicher Herausgeber der Günter-Grass-Werkausgaben einen Namen gemacht. Wie sollte er da nicht geradezu berufen sein, zum 70. Geburtstag von Günter Grass erneut mit einer grundlegenden Arbeit über „seinen Autor“ auf sich aufmerksam zu machen. Es ist - um es gleich vorwegzunehmen - eine spannend geschriebene und herzhaft erfrischende Publikation geworden.

Daß Günter Grass eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur nach 1945 ist, steht natürlich von der ersten Zeile an außer Zweifel. Das bestimmt die Sichtweise, die im Buch dominiert: „Wie kein anderer lebender Autor ist Günter Grass Repräsentant der deutschen Literatur nach 1945 mit weltweiter Wirkung. Der Lyriker, Dramatiker und Romancier, der Bildhauer und Grafiker hat durch sein Leben und Werk gegen die verstreichende Zeit gewirkt. Ein Zeitzeuge, der gegen das Verdrängen und Vergessen anschrieb und somit für unsere Nachbarn in Polen, Frankreich und anderswo zu einem glaubwürdigen Vertreter eines neuen Deutschland wurde.“

Volker Neuhaus hat eine gute, kluge und interessante Art gefunden, das Leben und literarische Werk von Günter Grass in jedem der 30 Kapitel konzeptionell mit dem Hauptthema seiner Arbeit zu verbinden: „Schreiben gegen die verstreichende Zeit“. So ist schon in „Danzig als Heimat“ aus dem Mund von Grass' Schüler und Bewunderer Salman Rushdie zu erfahren, daß der gebürtige Danziger aufgrund des Heimatverlustes geradezu schicksalhaft zum „exemplarischen Repräsentanten ,dieses Jahrhunderts der Wanderungen‘“ auserkoren war: „... wie viele Migranten, wie viele Leute, die eine Stadt verloren haben, hat er sie in seinem Gepäck wiedergefunden, verstaut in einer Blechdose. Kunderas Prag, Joyce's Dublin, Grass' Danzig: Exilierte Flüchtlinge, Migranten haben viele Städte in ihrem Gepäck herumgetragen ...“ Wenn das im literaturwissenschaftlichen Vergleich nichts hergibt!

Ein Kapitel später - in „Jahrgang 27“ - kann mit vergleichendem Seitenblick auf Eigenheiten der zwei Jahre jüngeren Christa Wolf nachgelesen werden, daß Grass' Geburtsjahrgang auf eine eigentümliche Weise mit dem Dritten Reich verbunden ist: „Er ist der Jahrgang, der von der Einschulung bis zum Abitur der NS-Indoktrinierung ausgesetzt ist ...“ So wird Mosaikstein um Mosaikstein zu einem beeindruckenden literaturwissenschaftlichen Gesamtbild zusammengefügt. Etwa ein Drittel des Textes braucht Volker Neuhaus, um seine Leser an den Erfolg der Blechtrommel und an Günter Grass' Weltruhm heranzuführen. Auch später dominieren die Werkanalysen: Der Butt, Das Treffen in Telgte und Kopfgeburten, Die Rättin, Unkenrufe und - natürlich - Ein weites Feld mit allen Skandalen und Skandälchen um die Rezeption in der Kritik zwischen „Zerreißen statt Besprechen“. Dazwischen bietet Volker Neuhaus alles auf, was Günter Grass als Multitalent in allen seinen leuchtenden Farben erstrahlen läßt: Grass' politisches Engagement, das Privatleben in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren, den Exkurs: Der Grafiker Günter Grass, der indische Aufenthalt, Grass' Position beim Fall der Mauer und der Wiedervereinigung. Die Fotos und Graphiken sind durchaus nicht bloß Beigabe und Illustration; einige von ihnen - wie die Neujahrskarte für Walter Höllerer, „David als Oskar II“, „Die Rättin, von der mir träumt“ oder „Selbst mit Hut und Unke“ lassen den großen Graphiker erkennen.

Günter Grass kann sich eigentlich über keine Stelle des Buches beschweren. So liebevoll, so pingelig genau (einschließlich der vierseitigen Zeittafel) und doch auch so objektiv und ausgewogen hat über ihn meines Wissens noch kein anderer geschrieben. Wo Volker Neuhaus offenbar nicht alles allein aussprechen wollte, hat er bekannte Zeitgenossen gefunden, die das, was er auszudrücken wünschte, als international anerkannte Persönlichkeiten zur Sprache brachten. Nadine Gordimer zum Beispiel: „Seit Thomas Mann hat kein deutscher Schriftsteller eine so große Wirkung auf die Weltliteratur gehabt.“ Wenn das nicht klingt!

Der Schluß ist - wie der Untertitel des Buches - offen. „Die Feststellung, daß ich ausgeschrieben bin, überlasse ich gerne anderen“, wird Günter Grass zitiert. Man kann gespannt sein, was der nunmehr Siebzigjährige an weiteren „Fundsachen“ in seinem Leben und Werk bereithält.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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