Eine Rezension von Herbert Mayer

Von den Schwierigkeiten mit der Demokratie

Wolfgang Leonhard: Spiel mit dem Feuer
Rußlands schmerzhafter Weg zur Demokratie.

Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1996, 333 S.

Leonhard analysiert die Entwicklung in Rußland, in der zwei Eckpunkte hervortreten: die Parlamentswahlen im März 1995 und die Präsidentenwahl im Sommer 1996. Der Leser erhält einen faktenreichen Zeitreport von einem Kenner des Landes, der zur Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten zahlreiche Publikationen vorgelegt hat.

In Wien geboren, lebte L. als Jugendlicher 1935 bis 1945 in der Sowjetunion, anschließend in der sowjetischen Besatzungszone und seit 1949 in der Bundesrepublik. Er lehrte als Sowjetunion- und Rußlandexperte u. a. an den Universitäten Oxfort, Columbia und Yale.

Anliegen des Autors ist es, einen Gesamtüberblick über den gegenwärtigen Zustand Rußlands und der GUS-Staaten zu geben. Er vermittelt zunächst seine Eindrücke als Wahlbeobachter, um dann der Frage nachzuspüren, wieweit Rußland auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft vorangekommen ist. Sein Fazit: Der direkte Durchbruch ist nicht gelungen, was zur Enttäuschung vieler Menschen führte. Als Symptome benennt er mit Recht Armut und Elend großer Teile der Bevölkerung, soziale Ungerechtigkeit, Kriminalität - insbesondere die Macht der Mafia - und Korruption. Auch der Krieg in Tschetschenien habe viele Hoffnungen zunichte gemacht. Der Reformkurs ist nach Auffassung von Leonhard 1992/93 dadurch gestoppt worden, daß die von ihm als „national-autoritär und kommunistisch“ gekennzeichneten Gegenkräfte zu stark geworden wären. Dieser „national-autoritären Entwicklung“ Rußlands entspreche ein autoritäres Präsidialregime mit gewissen parlamentarischen, rechtsstaatlichen und (teilweise eingeschränkten) demokratischen Rechten und Freiheiten. Jelzin selbst habe sich seit 1992 immer mehr den national-autoritären Kräften angenähert, sein Sieg bei der Präsidentenwahl im Juli 1996 wertet Leonhard nicht als Referendum für Jelzin und die Fortsetzung eines demokratischen Reformprozesses, sondern als Ablehnung, zum kommunistischen Sowjetsystem zurückzukehren. Die Kommunisten bleiben seiner Einschätzung nach jedoch für längere Zeit eine ernstzunehmende politische Kraft, so daß ihre Forderungen in Rechnung zu stellen sind. Die Gefahr einer Machtübernahme durch Rechtsextremisten, die es mehr als in jedem anderen europäischen Staat gebe, hält er für alles andere als wahrscheinlich. Andererseits gilt ihm auch nicht als garantiert, daß ein demokratischer Reformprozeß fortgeführt wird. Das national-autoritäre Regime sei keine kurze Übergangserscheinung, sondern bestehe längere Zeit, wobei es sich auf drei weltanschauliche Säulen stütze: die (meist glorifizierten) russisch-zaristischen Vergangenheit, das Bekenntnis zur russisch-orthodoxen Vergangenheit und Aspekte der sowjetischen Zeit mit Schwergewicht auf dem Sieg im Zweiten Weltkrieg.

Wirtschaftlich rechnet er mit harten Auseinandersetzungen zwischen den Kräften, die eine Begrenzung von Marktwirtschaft und Privatisierung mit einem stärken staatlichen Einfluß anstreben, und jenen, die den Weg zu Marktwirtschaft und Privatisierung verstärken und beschleunigen wollen. Als positiv bewertet Leonhard, daß die Macht der Moskauer Zentrale stetig abnimmt und einzelne Regionen an Bedeutung gewinnen. Letztlich belegen seine Darlegungen, daß Modelle des Westens nicht ohne weiteres auf den Osten übertragbar sind.

Des weiteren untersucht Leonhard das Verhältnis Rußlands zur GUS und seinen Randstaaten. Parallel zur inneren national-autoritären Entwicklung konstatiert er eine Wandlung der russischen Außenpolitik durch Glorifizierung der russischen Traditionen, Betonung des eigenständigen russischen Weges, Hervorkehren russischer Großmacht- und Sicherheitsinteressen unter Verlagerung des außenpolitischen Schwerpunkts nach Asien und dem Nahen Osten. Gorbatschows „neues Denken“ und das Streben nach einem „gemeinsamen europäischen Haus“ gehören der Vergangenheit an (aber wohl nicht nur in Rußland). In der Armee gebe es starke reformfeindliche Kräfte, die den Übergang zum Mehrparteiensystem und zur Marktwirtschaft (einschließlich der Privatisierungen) ablehnten und zugleich im rechtsnationalistischen oder kommunistischen Spektrum aktiv seien. Einen Militärputsch hält Leonhard trotz des desolaten Zustands der Armee gegenwärtig nicht für möglich. Zum einen habe sich die Armeeführung trotz aller Widerstände stets der Regierung unterstellt und sich nicht in innenpolitische Auseinandersetzungen eingemischt, zum anderen fehlt es seiner Meinung nach für einen Militärputsch an Tatkraft, Geschlossenheit, Risikobereitschaft und Erfolgschancen. Ohne die militärischen Konflikte zwischen den Nationen der ehemaligen Sowjetunion und ihre nicht beseitigten Ursachen zu übersehen, glaubt er nicht an die Gefahr eines „nationalen Flächenbrands“ analog der Entwicklung in Jugoslawien. Er hofft darauf, daß sich das Bewußtsein einer notwendigen Zusammenarbeit in der GUS zunehmend durchsetzen werde. Rußland bleibe international ein schwieriger Partner und könne zu mancher Besorgnis Anlaß geben, aber eine Bedrohung des Westens durch Rußland gebe es nicht, da die Zeiten des Kalten Krieges vorbei sind. Die Zukunft der russischen Außenpolitik sieht er als widerspruchsvoll, „zwar autoritär, aber nicht totalitär; national-imperial, aber nicht imperialistisch, wirtschaftlich protektionistisch, aber ohne planwirtschaftliche Isolation“.

Einen Abschnitt seiner Darstellung widmet der Autor dem Problemkreis „Deutschland und die Entwicklung in Rußland und den GUS-Ländern - was wurde bisher getan? was könnte noch getan werden?“ Er konstatiert bei vielen Deutschen gegenüber Rußland und den GUS-Ländern allgemeines Interesse und Bereitschaft zu aktivem Engagement. Da die deutschen Einflußmöglichkeiten begrenzt bleiben, sei eine Konzentration auf das Richtige und Notwendige geboten: Für Leonhard sind dies der wirtschaftliche Bereich, einige Bereiche der russisch-deutschen Beziehungen (u. a. Übersiedlung von Rußlanddeutschen, Kunstschätze-Problematik aus dem Zweiten Weltkrieg), humanitäre Hilfe, Unterstützung für den Aufbau des Rechtssystems und Zusammenarbeit mit demokratischen Kräften sowie Entfaltung der kulturellen Beziehungen (einschließlich von Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten und Regionen).

Leonhard betont die Schwierigkeiten für Prognosen über den Transformationsprozeß in Rußland (und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion). Als Gründe dafür benennt er Schnellebigkeit und einen Zickzackkurs im Wechsel von Erfolgen und Rückschlägen. Interessant wird es sein, Leonhards Buch in ein paar Jahren wieder zur Hand zu nehmen: Welchen Bestand hatten dann seine Analysen und wie erfüllten sich seine Prognosen?!


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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