Eine Rezension von Klaus Ziermann

Eine differenzierte, dialektische Betrachtungsweise

Mark Lehmstedt/Siegfried Lokatis (Hrsg.): Das Loch in der Mauer - Der innerdeutsche Literaturaustausch

Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens. Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte Band 10.
In Kommission bei Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1997, 364 S.

Dieses Buch verdient vollste Anerkennung. Sein geschichtswissenschaftlicher Neuwert ist verblüffend groß, sein Flair - die spürbare gegenseitige Achtung bei der Bewältigung eines in der Tat sehr komplizierten Gegenstandes - geradezu vorbildlich, die technische Aufmachung samt Register, das durch seine Ausführlichkeit und Exaktheit imponiert, gefällt - wie bei Harrassowitz gewohnt - sehr gut. Der Band vereinigt die Beiträge der 5. Tagung des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens, die in Zusammenarbeit mit dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Buchgeschichte vom 12. bis 14. September 1996 im Leipziger Haus des Buches stattfand. „Unter dem von manchem Teilnehmer als provokativ empfundenen Titel ,Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch‘ fanden sich Historiker der verschiedensten Fachbereiche und einstige Akteure, Angehörige der älteren und der jüngeren Generation, Vertreter aus Ost und West, Frauen und Männer zusammen, um erstmals den Versuch zu unternehmen, einen besonders brisanten Aspekt der jüngsten Buchgeschichte Deutschlands zu rekonstruieren“, ist einer „Vorbemerkung“ zu entnehmen. Was zustande kam und gedruckt vorliegt, kann sich sehen lassen, gehört zum Besten an geistiger Aufbereitung neuerer deutscher Geschichte.

Auf drei Ebenen werden die Erfahrungen des innerdeutschen Literaturaustausches - zumeist sehr faktenreich und als Ergebnis von konkreten historischen Tatbeständen - aufgearbeitet: „I. Phasen und Institutionen“, „II. Verlagsbeziehungen“ und „III. Autoren-Kontakte und Literaturrezeption“. Dieses Vorgehen hat sich bewährt, denn es ermöglicht sowohl die Analyse der großen gesellschaftspolitischen Hintergründe und maßgeblichen Konzepte während der Zeit deutscher Zweistaatlichkeit als auch das exakte Abwägen des spezifischen Beitrags einzelner Verlage und Autoren zum innerdeutschen Literaturaustausch. Selbst persönliche Erfahrungen fehlen nicht - wie zum Beispiel in „Der Akademie-Verlag Berlin“ von Lothar Berthold oder „Vom Blick über die Mauer“ von Gerhard Dahne.

Von den 27 Beiträgen verdienten eigentlich alle spezielle Würdigungen. Ich möchte - auch um Neugier zu wecken - wenigstens ein paar nennen, die Maßstäbe setzen: „Phasen deutsch-deutscher Literaturpolitik der DDR unter Ulbricht. Devisenprobleme, Außenhandelsinstrumente und Kontrollinstanzen“ von Siegfried Lokatis, „,Bürgerkriegsliteratur‘ und andere ,staatsgefährdende Schriften‘. Westdeutsche Abwehrstategien im innerdeutschen Buchaustausch“ von Stefan Tiepmar, „Die Anfänge des deutsch-deutschen Buchhandelsverkehrs (1945-1955)“ von Heinz Sarkowski, „Die Leipziger Buchmesse 1946 bis 1989“ von Klaus G. Saur, „Das Volkseigentum wird streng bewacht. Klaus Wagenbachs West-Ost-Projekte“ von Daniel Haufler, „Deutschland einig Vaterland? Der Deutsche Schriftstellerverband und seine Westarbeit in den fünfziger Jahren“ von Carsten Gansel, „Westdeutsche Literatur in der NDL. Literaturen in Konkurrenz“ von Martina Langermann, „Im Spiegel: DDR-Literatur in den Hauspublikationen eines westdeutschen Verlages (Luchterhand 1965-1987)“ von Hans Altenheim.

Daß in einem Buch diesen Charakters unterschiedliche, zum Teil auch konträre Positionen vertreten werden, verwunderte mich nicht: Wie anders sollte deutsche Geschichte nach der Wiedervereinigung 1990 sonst ablaufen? Zwei Stellen aber haben mich sehr zum Nachdenken angeregt. Als „Ausblick“ formulierte Klaus G. Saur - ein Mann, der 42mal an der Leipziger Buchmesse teilnahm, deren Höhen und Tiefen miterlebte - am Ende seiner Ausführungen: „Auch in den schlimmsten Zeiten des kalten Krieges fand die Buchmesse statt, kamen die meisten westdeutschen Aussteller wieder nach Leipzig, rissen die Kontakte - nicht nur mit den staatlichen Stellen, sondern insbesondere mit den beteiligten Personen in den Verlagen, Buchhandelsfirmen und Außenhandelsorganisationen - nie ab. Die Buchproduktion der DDR hat in all dieser Zeit ein erstaunlich hohes Niveau gehalten. Viele konkrete Gemeinschaftsausgaben oder Verträge konnten realisiert werden. Die wirtschaftliche Bedeutung blieb immer begrenzt, aber der Buchaustausch fand doch in einem erstaunlich großen Maße statt, was den politischen Verhältnissen häufig durchaus widersprach.“ (S. 131)

Und am Schluß des Beitrags von Wulf D. v. Lucius „Die Zusammenarbeit der Gustav Fischer Verlage in Stuttgart und Jena 1953 bis 1989“ stehen diese Sätze: „Vieles vom vorstehend Geschilderten darf als Beweis dafür gesehen werden, daß es eben nicht nur Systeme als solche sind, die den Gang der Dinge bestimmen, sondern vielleicht ebenso entscheidend die handelnden Einzelnen. Was die Fischer Verlage in Jena und Stuttgart betrifft, darf man den Verantwortlichen über 4 Jahrzehnte nicht nur den aufrichtigen Willen zur Zusammenarbeit, sondern auch eine glückliche Hand bei der Verwirklichung attestieren. So liefert die Zusammenarbeit der beiden Verlage einen Beleg, wie gemeinsame Traditionslinien über mehr als 40 Jahre in höchst unterschiedlichem politischen und wirtschaftlichen Umfeld überdauerten. Dies war dann auch ab 1990 die Basis für eine enge Zusammenarbeit und schließlich Wiedervereinigung unter einem Dach. Doch das ist eine andere Geschichte.“ (S. 219)

Mein Gott, ging mir da durch den Kopf, wo wird denn derzeit sonst in gesamtdeutschen Medien so differenziert und dialektisch über DDR-Vergangenheit, Gemeinsamkeiten und neue deutsche Geschichte gesprochen? Ich gestehe auch, daß mein Nachdenken darüber immer noch nicht abgeschlossen ist und ich weiter nach überzeugenden Beispielen suche.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite