Eine Rezension von Max-Claus Resel

Rußlands Weg?

Alexander Lebed: Rußlands Weg

Aus dem Russischen von Ulrike Fromm, Eva Rönnau und Katja Schukschina.
Spiegel-Buchverlag, Hamburg 1997, 574 S.

Soll das, was Alexander Lebed schildert, tatsächlich „Rußlands Weg“ sein? Was auf den ersten 440 Seiten dieses dicken Wälzers geboten wird, ist - genau betrachtet - nichts anderes als die derzeit florierende Memoirenliteratur, diesmal allerdings mit Erinnerungen eines Offiziersschülers wider Willen: „Als Kind träumte ich nicht davon, Offizier zu werden, und Militäruniformen waren mir gleichgültig. In unserer Familie gab es keine Offiziere, nur gemeine Soldaten.“ (S. 9) Erst später - an der Höheren Luftwaffenschule „Leninscher Komsomol“ in Rjasan, beim Einsatz „Auf den Straßen von Afghanistan“ und an der Militär-Akademie in Moskau - wurde Alexander Lebed zu einem erfolgreichen sowjetischen General geformt, der unmittelbar in die große Politik eingriff. Ersten Ruhm und erste Ehren erlangte der Ex-General, als er in Moldawien und Baku Frieden stiftete und als russischer Präsidentschaftskandidat wider Erwarten viele Stimmen erhielt. Am bekanntesten wurde er jedoch, als er als Sicherheitsberater Jelzins in Tschetschenien die Waffen des Bürgerkriegs zum Schweigen brachte. „Der Frieden in Tschetschenien ist das wichtigste Ergebnis jener 133 Tage, an denen ich Zugang zu den Hebeln der Macht hatte“ (S. 532), urteilt er selbst.

Die Schilderung des „Theaters, das sich ,Putsch‘ nannte“ (S. 465 ff.), gehört, weil lebendig und aus unmittelbarer Erlebnisnähe beschrieben, zu den besten Passagen des ganzen Buches. Schon vorher hatte Alexander Lebed wiederholt vor dem Schlingern des sowjetischen Staatsschiffes gewarnt: „Das Staatsschiff trieb ohne Steuer und Führung auf einen gigantischen schwarzen Strudel zu, und die Ungewißheit der bevorstehenden Veränderungen, unbekannt unter welchen Vorzeichen, rief unerklärliche Schwermut hervor. Der Staat glitt einem unter den Füßen weg, man spürte ihn nicht mehr hinter sich. Vor den eigenen Augen ging etwas Großes, Sicheres, Dauerhaftes verloren, worauf sich eigentlich der ganze Sinn des Lebens und des Dienstes gegründet hatte.“ (S. 440) Wie muß ihn - dem dienstbeflissenen, ordnungsliebenden und Befehle umsetzenden Militär - bei der Niederschrift solcher Worte gegruselt haben. Nicht umsonst ist Alexander Lebeds Autobiographie an mehreren Stellen eine insgeheime Trauer um den Untergang der Sowjetunion anzumerken. „Wer ihren Zerfall nicht bedauert, der hat kein Herz im Leib; aber wer glaubt, man könne sie in ihrer früheren Gestalt wiedererrichten, der hat keinen Grips im Schädel. Es gibt genug zu bedauern: Es ist ein riesengroßer Unterschied, ob man Bürger einer Großmacht ist - zwar einer mit vielen Mängeln, aber doch einer Großmacht -, oder Bürger eines heruntergekommenen ,Entwicklungslandes‘“ (S. 498), heißt es schwarz auf weiß.

Am prägnantesten geht es um Rußlands Weg und Zukunft eigentlich erst auf den Seiten 544/545: „Zu einer Demokratie, wie sie im Westen besteht, müssen wir erst heranreifen. Und sie entspricht auch nicht in jeder Hinsicht unserer historischen Erfahrung und Tradition, unserem Nationalcharakter. Demokratie - das ist vor allem die Garantie von Rechten und Freiheiten, eine garantierte Möglichkeit für jeden, im Rahmen der Verfassung und unter Einhaltung des Gesetzes auf Regierung und Politik Einfluß zu nehmen“, steht auf S.544. Damit Rußland in der sich rasch verändernden Welt einen stabilen Halt finden und die Gesellschaft sich dynamisch entwickeln könne, habe Rußlands Präsident „die politische Willenskraft und Entschiedenheit aufzubringen,

Alexander Lebed hat seinem Buch ein Wort von W. F. Margelow vorangestellt: „Es gibt keine unlösbaren Aufgaben.“ In seinem Buch aber bleibt er bis zum Ende realistische politische Lösungen für Rußlands Zukunft schuldig. Oder sollte das Zehn-Punkte-Programm einer langfristigen, allmählichen Demokratisierung Rußlands, das Alexander Lebed auf S.545 wie einen Weihnachts-Wunschzettel darlegt, etwa schon das sein, was er unter „einer Lösung“ versteht?

Die Russen müssen offensichtlich gemerkt haben, wie wenig politischer Realismus in den großangelegten Prophezeiungen ihres Landsmannes steckt. Jedenfalls wurde der Ex-General mit der Fähigkeit, ein großes Publikum mit kraftvoll vorgetragenen simplen Wahrheiten animieren zu können, in jüngster Zeit in die dritte Reihe russischer Politiker zurückgedrängt und verlor über die Hälfte seiner Wähler.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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