Eine Rezension von Max-Claus Resel

Literaturwissenschaft wie ein Krimi

Timm Boßmann: Der Dichter im Schußfeld
Geschichte und Versagen der Literaturkritik am Beispiel Günter Grass.

Tectum Verlag, Marburg 1997, 180 S.

Diese 180 Seiten von Timm Boßmann lesen sich in der Tat spannend wie ein Krimi. Das liegt sicher in erster Linie daran, daß sich der Autor in seiner eigenwilligen literaturwissenschaftlichen Günter-Grass-Story wie ein Krimi-Schriftsteller auf die Hauptstränge der Handlung konzentriert, die Geschichte von Anfang an nach dem Gut/Böse-Schema auf den Punkt zu bringen versucht und sich nicht von Nebenhandlungen verführen läßt. Psychologisches scheint nicht so sehr seine Sache zu sein, er bevorzugt das, was die Amerikaner als Action bezeichnen. Und sofort geht es nach Krimi-Rezept in „1 Einleitung“ in „Eine Schlammschlacht“: Um den Kritiker-Trubel im Frühjahr und Sommer 1995 um Günter Grass' Roman Ein weites Feld im deutschen Blätterwald. Danach folgt im Kapitel 2 ein kurzer, sehr gedrängter „Überblick: Die deutsche Literaturkritik nach '45“, mit reichlich standardisierten Charakteristiken und Bilanzen, die an einigen Stellen nicht nur den Eindruck des Voreingenommenseins erwecken, sondern in Einzelfällen sogar das Gruseln lehren können. Gewiß, so radikale geistige Gradwanderungen sind in der Literaturwissenschaft durchaus möglich, doch ob sie dem pluralistischen Nebeneinander verschiedener geistiger Strömungen in der Literaturkritik der Bundesrepublik, der Vielfalt ihrer Positionen in den behandelten Zeitläuften immer gerecht werden, bezweifele ich. Mehr Ausgeglichenheit in der theoretischen Verallgemeinerung, statt Beharren auf lediglich einer eigenwilligen Argumentation, hätte hier sicher nicht geschadet.

Kapitel 3 ist kaum anders geartet. „Das Verhältnis zwischen Günter Grass und der Literaturkritik ist seit jeher problematisch“, erfährt der Leser gleich zum Auftakt. „Wie kaum ein anderer Autor darf sich Grass des permanenten Interesses der Medien sicher sein: Was immer er unternimmt, sagt oder veröffentlicht - das Feuilleton ist dabei. Sein Schaffen wird entweder hochgelobt - wie zuletzt Das Treffen in Telgte - oder in der Luft zerrissen. Mit abwägenden Zwischentönen tut sich die Kritik im Fall Grass besonders schwer.“ (S. 42) An Günter Grass' literarischen Werken Die Blechtrommel (1959), Danziger Trilogie (1961/63), Örtlich betäubt (1969), Der Butt (1977), Das Treffen in Telgte (1979) und Die Rättin (1986), aber auch an dem politischen Engagement des Schriftstellers wird diese These im Detail abgehandelt. Auf die Idee, daß sich Günter Grass immer wieder in den literaturkritischen Scharmützeln um seine Person und seine Werke sehr wohlgefühlt hat, sie gewissermaßen brauchte wie die Luft zum Schreiben und Interviewen, scheint Timm Boßmann nicht kommen zu wollen.

In dem 4. Kapitel - „Ein weites Feld: Untersuchung eines Vorfalls“ - wird das Geschehen auf den Punkt gebracht. Peinlich genau - das ist ein großer, sofort ins Auge springender Vorzug der gesamten Arbeit - werden die Chronologie der Ereignisse um Grass' neuen Roman, die „Urteile der Großkritik“, die „Kritik in Ost und West“, „Stimmen aus dem Ausland“ und - unter der Fragestellung „Der Roman: Pamphlet oder Poesie?“ - Interpretationsmöglichkeiten untersucht. Das Wesentlichste ist mit ein paar Seitenhieben gegen „diese Wadenpisser und Literaturpäpste“ (S. 157) in drei Punkten zusammengefaßt:

„1. Weil die Literaturkritik an Ansehen eingebüßt hat, was einerseits von der Beliebigkeit ihrer Urteile, andererseits aber auch von der schwindenden Bedeutung der Literatur im öffentlichen Diskurs überhaupt herrührt, bringen sich ihre Protagonisten, die Großkritiker, ins Gespräch, indem sie den neuen Grass-Roman erst euphorisch ankündigen, um ihn dann publikumswirksam zu zerreißen. Das Publikum verfolgt die inszenierte Hinrichtung zwar mit Interesse, mißt den Urteilen aber wenig Bedeutung zu.“ (S. 155)

„2. Grass hat immer schon polarisiert ... Er entwickelt seine Technik stetig weiter. Von der Blechtrommel, die ja trotz ihrer grotesken Elemente sehr altmodisch komponiert und erzählt war, über Die Rättin, mit der Grass traditionelle Gattungsbegriffe gesprengt hat, bis hin eben zu Ein weites Feld, diesem manieristischen Fontane- und Wende- und Geschichts- und Schelmenroman, in dem er zudem noch fremde literarische Figuren verarbeitet und sich ganz dem Sprachgestus eines anderen Schriftstellers hingibt: Mit diesem Spätwerk hat Grass sowohl sich, als auch seine Leser und Kritiker an neue Grenzen getrieben.“ (S. 155)

„3. Und damit sind wir schon bei den respondierenden Faktoren: Die Kritik nämlich hat Grass, kaum war der erste Aufschrei der Empörung nach der Blechtrommel verklungen, einseitig auf ein simples Markenbild verkürzt, das ihm seit nunmehr 40 Jahren anhängt: Der Grass ist a) eigentlich ein Fossil, ein wortgewaltiger Barockpoet, der sprachlich aus dem vollen schöpft; b) von einer geradezu monströsen Phantasie geplagt und c) - auch darin pflegeleicht vergangenheitsfixiert - ideologiefrei. Ideologiefrei in dem Sinne, daß er zwar jene Verbrechen der Vergangenheit, die nicht mehr wegzudiskutieren sind, gehörig anprangern soll (Nationalsozialismus), sich aus der jeweils gegenwärtigen Politik jedoch herauszuhalten hat (Studentenprotest, Wettrüsten) oder aber unauffällig mit dem Strom schwimmen soll (Feminismusdiskussion).“ (S. 156)

Von großem Wert ist das Literatur-Verzeichnis. Es enthält auf 21 Seiten die bedeutendsten Rezensionen zum literarischen Werk und die wichtigste Sekundärliteratur über Günter Grass - ein unentbehrliches Instrumentarium für jeden, der sich eingehender mit diesem deutschen Schriftsteller beschäftigen möchte.

Es ist insgesamt eine originelle, aber bemerkenswerte literaturwissenschaftliche Leistung aus Marburg - fürwahr. Sie reizt zu manchem Widerspruch, regt aber auch zu intensivem Mit- und Nachdenken an. Was will man von einer literaturwissenschaftlichen Studie eigentlich mehr?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite