Eine Rezension von Kathrin Chod

Die erste sozialistische Magistrale

Herbert Nicolaus/Alexander Obeth: Die Stalinallee
Geschichte einer deutschen Straße.

Verlag für Bauwesen, Berlin 1997, 334 S.

Zu meinen Kindheitsbildern gehören auch die schier endlosen Einkaufstouren durch die Stalinallee, die damals allerdings amtlich schon Karl-Marx-Allee hieß. Wenn wir also einkaufen gingen, zog sich das nicht nur aufgrund des lückenhaften Angebots in den Läden so geraume Zeit hin, sondern auch wegen der beträchtlichen Länge der Straße. Mir blieben so jedenfalls genügend Augenblicke für die imposante Ausstattung der Straße, die sich beträchtlich von der schmucklosen Tristesse meines Kiezes unterschied. Prächtige Kolonnaden, große Laternen, markante Hauseingänge und eindrucksvolle Balkons. Ich muß zugeben, daß die Magistrale immer eine gewisse Ausstrahlungskraft auf mich besaß. Offiziell fanden die Straße und ihre Architektur immer weniger Beachtung. Die Aufmerksamkeit hatte sich auf die großen Plattenbausiedlungen am Rande der Stadt verlagert. Sie sollten die realistische Alternative sein, um billigen Wohnraum für viele zu schaffen. Gleichzeitig zeigten gerade diese Plattenbauten, was von den großen Ansprüchen geblieben war.

Wenn bald schon die ersten Keramikfliesen von den Hauswänden in der Stalinallee fielen, so war das fast schon symbolisch. Demonstrierte die Vernachlässigung nicht auch, wie wenig man noch von Träumen wissen wollte, mit denen man einst daranging, den „ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ aufzubauen?

Das Ende der DDR schien zunächst auch das Ende für ihre einstige Vorzeigestraße einzuläuten. Die Sieger der Geschichte hatten noch nie viel mehr als Hohn und Spott für den „Zuckerbäckerstil“ übrig. Hoffnung für die Stalinallee brachte plötzlich die Anerkennung, die berühmte internationale Architekten, wie der Star der Moderne Philipp Johnson, der Magistrale zollten. Entdeckten sie hier doch sogar den „letzten großen Boulevard Europas“. Unter das Berliner Denkmalschutzgesetz gestellt, wurden einige Wohnhäuser mittlerweile vorbildlich restauriert. Andererseits stehen viele Geschäfte leer, und neue Glaspaläste drängen sich in Baulücken, drohen das Gesamtbild der Straße zu zerstören. Dennoch könnte die Magistrale eine ungeahnte Renaissance erleben.

Auf dem Buchmarkt ist diese Renaissance bereits eingetreten. Eine Vielzahl von Neuerscheinungen befaßt sich mit Geschichte und Architektur der Stalinallee.

Die Autoren Herbert Nicolaus und Alexander Obeth sind beide Historiker und konzipierten u. a. 1994 eine Ausstellung zur Stalinallee. Sie verhehlen nicht ihre Sympathie für das Projekt, welches „das aufrichtig erlebte Pathos des ,Wirklichkeit werdenden Traums‘“ widerspiegele. So attestieren sie auch dem Städtebau und der Architektur in den frühen Jahren der DDR einen „zutiefst humanistischen Kern“.

Ulf Mathiesen kritisiert in seinem Vorwort, daß die Stellung der Stalinallee zur Bau-Moderne sowie ihre Beziehung zu den systemübergreifenden Problemen von Städtebau und Architektur im 20. Jahrhundert nur gestreift werden. Diesen vermeintlichen Mangel machen die Autoren mehr als wett, indem sie geradezu vorbildlich die Entstehung der Stalinallee im politisch-historischen und wirtschaftlichen Kontext schildern. Eine „detektivische Fallstudie“, wie vom Verlag angekündigt, ist das Werk in jedem Fall. Obeth und Nicolaus schildern detailliert, ja geradezu akribisch den Prozeß bis zur endgültigen Planung der Straße. Die bislang umfassendste Arbeit zur Geschichte der Magistrale erschließt dabei eine Fülle von Dokumenten neu. Zahlreiche Abbildungen ergänzen das gelungene Vorhaben. Großen Raum nimmt so der Wettbewerb zur Gestaltung der Stalinallee ein. Die einzelnen Entwürfe werden vorgestellt und auf die Gründe, die zur Ablehnung oder Annahme führten, detailliert eingegangen.

Wer erbaute das siebentorige Theben, fragte Brecht. Ganz in diesem Sinne widmet sich ein besonderes Kapitel den Erbauern der Stalinallee: den Zehntausenden Bauarbeitern und freiwilligen Helfern. Sie errichteten „unter primitivsten Bedingungen und ohne große technische Hilfsmittel“ dieses einmalige Bauensemble. Hier konzentrierten sich viele Probleme, und nicht zufällig begannen hier auch die Diskussionen um die Normerhöhungen 1953. Die Allee wurde zum Ausgangspunkt der Unruhen und somit zur „Straße des 17. Juni“. Die Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche im Land wie auch die halbherzigen Reaktionen der Parteiführung darauf erläutern Nicolaus/Obeth ausführlich und um historische Genauigkeit bemüht.

Für die Architekturfreunde von besonderem Interesse ist der Weg von der „neuen deutschen Architektur“, hin zum „besser, billiger und schneller bauen“. War die Stalinallee einerseits eine durchdacht komponierte, eigenständige Weiterführung des nationalen Erbes, so überforderte andererseits der Bau von „Wohnpalästen“ für die Arbeiter die Wirtschaftskraft dramatisch. In den fünfziger Jahren polemisierte Walter Ulbricht noch folgendermaßen gegen die Wohnbauten der Weimarer Zeit: Es seien Häuser gebaut worden, „die in ihrer architektonischen Gestaltung nicht den Wünschen der Bevölkerung entgegenkamen, die nicht der nationalen Eigenart unseres Volkes entsprachen, sondern dem formalistischen Denken einer Anzahl Architekten, die die Primitivität gewisser Fabrikbauten auf die Wohnungsbauten übertrugen“. Ironie der Geschichte, daß nur wenige Jahre später diese Einschätzungen von den sozialistischen Plattenbausiedlungen übertroffen wurden. Nur kann hierfür nicht das Denken der Architekten verantwortlich gemacht werden.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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