Eine Rezension von Max Klausner

Ein behutsamer Umgang mit Hölderlin

Martin Walser: Umgang mit Hölderlin - Zwei Reden

Insel Verlag, Frankfurt/M. 1997, Insel-Bücherei Nr. 1176, 57 S.

Zwischen den beiden Reden liegen über zwanzig Jahre. Die erste - „Hölderlin zu entsprechen“ - hielt der damals zweiundvierzigjährige Martin Walser im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft zum 200. Geburtstag des Dichters am 20. März 1970 im Württembergischen Staatstheater Stuttgart. „Da ich diesen Dichter immer schon mehr gelesen und verehrt als studiert hatte, nutzte ich die Gelegenheit und studierte acht Wochen lang Hölderlin und arbeitete die Rede aus“, erinnert sich Martin Walser in einer Nachbemerkung. (S. 54) Die zweite - „Umgang mit Hölderlin und darüber reden“ - wurde am 7. Juni 1996 vorgetragen, als Dankrede Martin Walsers nach der Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg vor der Höhe.

In beiden Reden erweist sich Martin Walser als großer Hölderlin-Kenner. „Dadurch, daß ich ihn fast von Anfang an gelesen habe, auf jeden Fall lange vor dem Stimmbruch, hat sich, weil dann in allen Jahrzehnten sich kein zweiter gefunden hat, den man so andauernd hätte lesen können, die Empfindung gebildet, man sei ihm nah“ (S. 7), gesteht er. Während es in der 1970er Rede um einen eigenwilligen Versuch geht, „diesen Dichter durch mehr als das dankbare Gefühl zu verstehen“ (S. 28) - also Friedrich Hölderlins literaturgeschichtlichen Standort zu benennen, sein Verhältnis zur Französischen Revolution und seine Enttäuschung darüber aufzuzeigen, „daß sie im Vaterland nicht wirkt“ (S. 40), ihn in der allmählichen Reduktion seiner privaten und öffentlichen Verhältnisse, nicht zuletzt in seiner fortschreitenden Krankheit darzustellen -, dominiert 1996 die Interpretation der Hölderlinschen Poetik. „Hölderlin ist, finde ich, nicht dunkel“, steht da zu lesen. „Heller als er ist überhaupt keiner. So hell wie er sind manchmal Kleist und Nietzsche. Mit hell meine ich durch und durch erlebbar, ein andauernder Triumph der Sichtbarkeit, der Daseinsdeutlichkeit, Miterlebbarkeit, das Äußerste an Geistesgegenwart, das die deutsche Sprache bis jetzt hervorgebracht hat.“ (S. 13)

Martin Walser strebt keine lückenlose linguistische Interpretation des Lebens und des Werks von Friedrich Hölderlin an. Er möchte Akzente setzen. In beiden Reden bleibt der bekannte Romancier und Dramatiker vom Bodensee ein Dichter, der seine Hörer und Leser anregen will, sich der - wie er formuliert - „Hölderlinschen Wörterwelt“, dem poetischen „Kosmos“ eines anderen, geistesverwandten Dichters, sensibel zu nähern, um sie sich in ihrer Geschlossenheit und Sinnfälligkeit geistig erschließen zu können.

Beide Reden sind daher voller Anregungen, sie fordern geradezu zum Mitdenken heraus. „Das Individuum ist eine glänzende europäische Sackgasse. Hölderlin kennt sich erst, wenn er sich mitgeteilt hat, wenn er sich im Gegenüber erfährt. Natürlich hat er sich zuerst an Menschen gewandt“, ist in der einen Rede zu lesen. (S. 37) In der anderen steht als literatur- und geistesgeschichtlicher Exkurs: „Goethe hat als junger Dichter dafür gesorgt, daß man in deutscher Sprache Ich sagen konnte und nicht mehr aufhören mußte, Ich zu sagen. Hölderlin hat das so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Er hat zwar eine Zeitlang makellose Strophen à la Schiller idealistisch strömen lassen können, aber er hat von Anfang an auch strengere Formen gesucht. Bei den das Erlebnis brechenden Oden-Strophen Klopstocks ging er in die Lehre, bei Pindar, nicht bei den frei laufenden Gedichten des jungen Goethe. Den strengen griechischen Formen hat er sich entgegengesetzt. Er hat sehr früh seine eigene Zerstörbarkeit, seine Hinreißbarkeit erlebt ... Er war sich seines Ichs zu wenig sicher; den frei strömenden Ausdruck der sogenannten Erlebnislyrik durfte er sich nicht gönnen.“ (S. 13)

Es ist eine im Umfang kleine Schrift. Aber Stoff zum Nachdenken bietet sie sehr, sehr viel.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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