Eine Rezension von Klaus Ziermann

„Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“

Marcel Reich-Ranicki: Der Fall Heine

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997, 2. Aufl., 128 S.

Marcel Reich-Ranicki hat zum 200. Geburtstag von Heinrich Heine ein sehr schönes Buch beigesteuert. Es ist locker geschrieben, würdigt den Dichter in seinen Vorzügen gebührend, beweist den Blick des Verfassers für große kulturgeschichtliche Dimensionen und besticht durch bildhafte Sprache. „Wenn es um Heine ging, wurde in Deutschland seit eh und je scharf geschossen. Ein geborener Provokateur war er und ein ewiger Ruhestörer. Er traf die schmerzhaftesten Wunden seiner Zeitgenossen, er kämpfte tatsächlich mit offenem Visier. Er ging ins Exil, um nie in Deckung gehen zu müssen. Seine Biographie reicht vom jüdischen Mittelalter bis zur europäischen Neuzeit, sein Werk führt von der deutschen Romantik zur Moderne der Deutschen. Ihm gelang die radikale Entpathetisierung der deutschen Dichtung. Indem Heine die Sprache der Literatur entrümpelte und modernisierte, schuf er die wichtigste Voraussetzung für ihre Demokratisierung. Ihm glückte die Überwindung der Kluft zwischen der Poesie und dem Leben.“ In diesen knapp zwölf Zeilen, die dem Leser als erste beim Aufschlagen des Buches als Umschlagtext in die Augen springen, steckt mehr Gedankenreichtum als in manchen mehrbändigen Heine-Monographien, und so etwas bereitet Genuß beim Lesen.

Dabei ist das meiste in Reich-Ranickis Buch nicht neu. Die drei Hauptbeiträge „Eine Provokation und eine Zumutung“, „Der Artist als Kritiker“ und „Es war ein Traum“ entstanden zwischen 1972 und 1991 und wurden zum Teil mehrfach publiziert. Doch das hat ihrer geistigen Frische keinen Abbruch getan. Bisher unveröffentlicht sind nur die einleitenden „Notizen über einen Weltpoeten“, die Nachbemerkung und die sechsseitige „Bibliographie der Arbeiten Marcel Reich-Ranickis“: eine Liste von Buchveröffentlichungen des Altmeisters gegenwärtiger deutscher Literaturkritik, dessen Produktivität sicher auch Heinrich Heine seinen Respekt nicht versagen würde.

Daß trotz verschiedener Einzelteile ein nahezu einheitliches Ganzes entstand, ist in erster Linie auf das fundierte, geschlossene, dialektische und überzeugende Heine-Bild im Kopf Marcel Reich-Ranickis zurückzuführen. Reich-Ranicki hätte in der Nachbemerkung nicht noch einmal speziell herausstellen müssen, wie sehr er Heine mag: Der Leser merkt es von der ersten Seite an und wird von dieser Liebe förmlich mitgerissen. An einem schönen, spannenden und unterhaltsamen Buch soll man bekanntlich nicht zu viel herumkritteln, aber zwei Stellen machten mich doch stutzig. Nachdem auf Seite 70 - vielleicht etwas leichtfertig? - festgestellt wurde, „Die Theorie war Heines Sache nicht“, steht auf Seite 72: „Seine ,Romantische Schule´ und auch seine ,Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‘, bestehen zu einem nicht geringen Teil aus Liebeserklärungen. Staunend und ehrfurchtsvoll verneigt er sich vor dem Riesen Martin Luther, er liebt Lessing, in dem er eine brüderliche Seele und zugleich ein Vorbild sieht. Denn Lessing und Heine, beide mußten sie, um sich entwickeln und um ihren Ort erkennen und fixieren zu können, stets gegen andere polemisieren. Und auch auf Heine selber lassen sich seine unvergeßlichen Worte beziehen: ,Vor dem Lessingschen Schwerte zitterten alle. Kein Kopf war vor ihm sicher. Ja, manchen Schädel hat er sogar aus Übermut heruntergeschlagen, und dann war er dabei noch so boshaft, ihn vom Boden aufzuheben und dem Publikum zu zeigen, daß er inwendig hohl war.‘ Aber war Heinrich Heine - zumindest in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland - nicht auch ein großer Hegel-Schüler, ein Anhänger der Hegelschen Dialektik par excellence? Hatte sich Heinrich Heine, der zeitlebens ein philosophisch gebildeter Mann war und Hegels Philosophie-Vorlesungen noch zu seinen Studienzeiten in Berlin gehört hatte, nicht gerade in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland als origineller Fortsetzer dieses geistigen Erbes erwiesen? Ich bin fest überzeugt: Wäre Heine nicht schon als Dichter des Buches der Lieder in die Weltliteratur eingegangen, er hätte sich mit der für die Nachfahren der Französischen Revolution bestimmten Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland einen Platz unter den führenden Köpfen der Hegel-Schule in der deutschen Kulturgeschichte gesichert.

Auf Seite 100 steht zu lesen: „In ,Deutschland - Ein Wintermärchen‘ finden sich die oft zitierten Verse:

Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben.

Natürlich: Diese Verse zielen vor allem auf Soziales ab, auf Politisches. Aber sie sind zugleich auf Erotisches zu beziehen: Der einst um Liebe gebettelt hat, will jetzt nicht mehr darben, er will auf Erden glücklich sein und schon hier das Himmelreich errichten.“ Ist diese Interpretation - im Gegensatz zu vielen anderen - nicht ein bißchen zu eng geraten? Hatte Heine nicht in voller Lautstärke hinausgedröhnt:

Ein neues Lied, ein bess‘res Lied,
O Freunde, will ich euch dichten:
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrthen, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Ausgerechnet diese programmatischen Verse will Marcel Reich-Ranicki - der Perfektionist in Sachen Literatur - überlesen haben? Ausgerechnet an dieser Stelle will er - durch Weglassen, Verändern der Zeilenanordnung und Herauslösen aus dem Gesamtzusammenhang (freilich ohne dabei das Soziale und Politische gänzlich unter den Teppich zu kehren) - „Erotisches“ bei einem entdeckt haben, der einst um Liebe gebettelt hat und nun nicht mehr darben will? Was Heinrich Heine in den vielzitierten Versen seines „neuen Lieds, seines bess‘ren Lieds“ ausgesprochen hat, gehörte zu seinem poetischen Programm - und diese soziale wie politische Programmatik hat eigentlich bis zum heutigen Tag nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Aber in diesem speziellen Punkt war Heinrich Heine auch schon Mitte des 19. Jahrhunderts weitaus progressiver und zukunftsträchtiger als Konservative im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Obwohl ich in beiden Fällen Marcel Reich-Ranickis Urteilen nicht folgen kann, bleibe ich dabei: Er hat ein sehr schönes, anregendes und spannendes Buch über Heinrich Heine geschrieben.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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