Eine Rezension von Hans-Rainer John

Sex, Crime und die Bombe

Joseph Kanon: Die Tage vor Los Alamos

Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr.
Karl Blessing Verlag, München 1997, 474 S.

Los Alamos steht für zweierlei: für die Erfindung der Atombombe und für den größten Spionagecoup dieses Jahrhunderts.

Die provisorische Ortschaft mitten in der Wüste Nevadas wurde 1943 geschaffen, um unter abgeschotteten Bedingungen mittels eines internationalen Wissenschaftlerteams unter Leitung des Generals Leslie Groves das „Projekt Manhattan“ zu realisieren. Anlaß war die Befürchtung, daß die Nazis den Alliierten mit dem Bau der Atombombe zuvorkommen könnten. Als sich herausstellte, daß Nazideutschland keine nukleare Bedrohung darstellte, weil die Atomforschung dort weit zurückgeblieben war, mußte für die Forscher eine neue Motivation gefunden werden. Groves erklärte ihnen 1944: „Es ist doch wohl klar, daß das ganze Projekt dazu dient, die Russen im Zaum zu halten.“ Vergeblich hatte Niels Bohr gefordert, die Russen in gleicher Weise wie die Engländer in das Projekt einzubeziehen, da sonst ein Rüstungswettlauf ohne Ende zu erwarten wäre. Da wandten sich einige der Physiker, vor allem Klaus Fuchs und ein bisher noch nicht enttarnter amerikanischer Wissenschaftler mit Decknamen „Perseus“, aus Gewissensgründen an Vertreter der UdSSR: Sie wollten dieses Land instand setzen, der atomaren Erpressung zu widerstehen, weil sie das atomare Gleichgewicht für einen stabilisierenden Faktor für den Weltfrieden hielten. Dank eines Agentenehepaars, das wegen seiner Umsicht, seines Mutes und seines Geschickes eine Spitzenstellung in der Geschichte der Spionage einnimmt, Lona Petka und Morris Cohan, beides amerikanische Kommunisten, gelangten die Ergebnisse von Los Alamos sicher und schnell in die Hände Stalins. Das ermöglichte der UdSSR, die ebenfalls fieberhaft an der Bombe arbeitete, Rückstand aufzuholen, Arbeitsschritte zu überspringen und das erstrebte Kräftegleichgewicht in kurzer Zeit herzustellen.

Das ist natürlich Stoff für einen Thriller, und Joseph Kanon, ein New Yorker Verlagsleiter, schätzungsweise fünfzig Jahre alt, hat ihn mit seinem Romanerstling geliefert. Da wird in Santa Fé, der Los Alamos nächstgelegenen Stadt, eine schrecklich zugerichtete Leiche gefunden. Es handelt sich um Karl Brauner, Sicherheitsoffizier des geheimen Projekts, allem Anschein nach beim Sex mit einem Straßengangster getötet. General Groves möchte, daß der Fall rückhaltlos aufgeklärt wird, denn Brauner wußte zuviel. Zur Untersuchung wird Michael Connally herbeibeordert. Der kommt dahinter, daß Brauners Homosexualität nur vorgetäuscht worden war, um Spuren zu verwischen. Tatsächlich wurde er umgebracht, weil er einem Spion auf die Schliche kam. Connally enttarnt den Physiker Friedrich Eisler als den Mann, der (uneigennützig und aus ideellen Motiven) den Verrat begangen hatte. Über den Mord an Brauner, der nicht vorgesehen war und von seinen Verbindungsleuten zu den Kommunisten ausgeführt worden war, kommt Eisler allerdings nicht hinweg. Er bringt sich mittels Strahlungen selbst um. Dem Mörderpärchen stellt Connally eine Falle. Den Mann bringt er zur Strecke, die Frau wird Opfer einer Verfolgungsjagd im Auto. Am Ende der zwischen April und August 1945 angesiedelten Handlung steht die Testexplosion - die Bombe funktioniert. Alles in Ordnung, Amerika gerettet, die Guten im Töpfchen, die Bösen im Kröpfchen.

Und da sich Crime erwiesenermaßen in der Mischung mit Sex besonders gut verkaufen läßt, muß Connally gleich am Abend seiner Ankunft in Leidenschaft zu Emma, der rassigen, aber leichtlebigen Frau des polnisch-jüdischen Physikers Pawlowski, entbrennen. (Damit kann er sich zugleich als unkonventioneller und unbürokratischer Sicherheitsmann von den sturen Leuten seiner Zunft absetzen.) Auch hier werden am Ende alle Probleme gelöst: Emma bewährt sich, indem sie Connally das Leben rettet, und verspricht, monogam zu werden, und Connally einigt sich mit Pawlowski und bietet Emma den Bund fürs Leben. Wie heißt es auf einer der letzten Seiten? „In Amerika gibt es immer ein Happy-End. Das ist besser als die Wahrheit.“

„Kein Augenzeuge hätte diesen Roman glaubwürdiger schreiben können“, meint der Verlag: Die Tage vor Los Alamos ist ein glänzend recherchierter Zeitroman. Der Autor dagegen vermerkt, alle Ereignisse des Buches seien Fiktion; auch die Personen mit den aus der Realität bekannten Namen existieren hier nur in der Vorstellung. (Gemeint sind Oppenheimer, Teller, Fermi, Szilard, Groves u. a.) Das muß kein Widerspruch sein. Recherchiert worden ist sicher in Los Alamos, um den damaligen Alltag möglichst detailgetreu beschreiben zu können. Die Lebensverhältnisse werden auch absolut plastisch geschildert, insbesondere die Atmosphäre ständigen Argwohns und allumfassender Bespitzelung und der krankhaften Hexenjagd auf Homosexuelle und Kommunisten, die selbst „Oppie“ fürchten mußte. Auch das beflügelnde Schöpfertum, das Szenarium geistiger Konzentration der auf eine gemeinsame Aufgabe konzentrierte Gruppe von Spitzenforschern kann man sich so vorstellen, wie es beschrieben wird. Sogar die Suche nach einer Motivation, nachdem die Nazis kapituliert haben, wird angedeutet und die Ahnung artikuliert, daß man mit der Bombe den Teufel aus der Flasche gelassen habe. Alles andere aber ist freie Erfindung (wenn man von den Parallelen Fuchs/Eisler absieht), die mitunter an Kolportage grenzt. In Europa kennt sich Kanon wirklich nicht aus, und so sind die Lebensläufe von Pawlowski, Lawson und Brauner unklar und verworren. Die antisowjetische Zielrichtung des Projekts verwischt er. (Oppenheimer: „Ich wußte nicht, daß wir Rußland als Feinde betrachten. Oder planen wir einfach voraus?“ Groves: „Davon weiß ich nichts. Und legen Sie mir nichts in den Mund.“) Für die Atomspionage sieht Kanon keinerlei Rechtfertigung (die Beteiligten gehören für ihn wohl rechtens auf den Elektrischen Stuhl), und daß sie Folgen für das Kräfteverhältnis in der Welt hatte, unterschlägt er. Dafür baut er den Sicherheitsoffizier Connally zum Helden auf, der das Vaterland rettet. Connally, dem merkwürdigerweise jeder mit dem Bekenntnis entgegenkommt „Ich mag Sie“, hat zum Schluß alle Fäden in Los Alamos in der Hand, indem er nicht nur die Wahrheit herausfindet, sondern sie auch umschminkt und damit Groves und Oppenheimer rettet und warnt.

Das Buch sei ein grandioses Debüt Kanons, meint der Verlag. Das trifft nicht unbedingt den Sachverhalt. Kanon schreibt behäbig und trocken, seine Dialoge sind nicht immer flüssig und interessant, die Handlung längt sich, und über weite Strecken muß man sich zwingen, am Ball zu bleiben, statt daß die Spannung den Leser von Seite zu Seite treibt. Erst im letzten Drittel überschlagen sich die Ereignisse, dann aber häufen sich auch Unwahrscheinlichkeiten. Emma wird dreivierteltot aus einem Auto gezogen, das erst gegen einen Baum raste und dann einen Abhang hinunterstürzte; kurz danach ist sie aber wieder putzmunter und hat nur ein paar Kratzer. Oder Connally wird zusammengeschlagen und fällt in Ohnmacht, rappelt sich aber sofort wieder auf und bricht zu wilder Verfolgungsjagd auf. Das erhöht die Glaubwürdigkeit des Autors nicht. Die tatsächlichen Vorgänge waren, soweit sie erforscht sind (Perseus - Spionage in Los Alamos von Wladimir Tschikow und Gary Kern, Edition Laffont, Paris 1996), fast dramatischer, aber natürlich nicht so spektakulär. Mord und Totschlag, Sex und Verfolgungsjagden kamen da nicht vor, die Rolle der Sicherheitsdienste war keine so positive, und die Folgen für Amerika waren weitreichend und schmerzlich. Inzwischen weiß man auch, daß die Sowjetunion in Los Alamos nicht nur einen Tipgeber hatte, sondern ein dichtes, vielfach geknüpftes Spionagenetz. So gesehen sind die Möglichkeiten für die Kriminalliteratur bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Wahrscheinlich bedürfte es aber eines Autors wie John Grisham oder sogar eines Stephen King, diese komplexe Geschichte zu erzählen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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