Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Gut erzählt, kalt erzählt

Zoë Jenny: Das Blütenstaubzimmer

Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1997, 139 S.

Das Blütenstaubzimmer ist das erste Buch der Dreiundzwanzigjährigen Zoë Jenny, die in Basel lebt und arbeitet. Ihr Roman wurde von Kritikern sofort mit Freude aufgenommen. 1997 erhielt die Autorin für ihr Buch das 3sat-Stipendium beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, gleich danach folgten der Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und der aspekte-Literaturpreis, den das ZDF vergibt. Innerhalb weniger Wochen sechs Auflagen. Wie erklärt sich ein solches Echo? Die ZDF-aspekte-Jury begründete ihre Entscheidung so: „Ihr Debüt besticht durch die Poesie des kalten Blicks. Die Sprache ist von sezierender Schärfe, ihr Buch das Zeugnis einer skeptischen Generation.“

Skeptisch sind sie ja alle, wenn sie nicht gerade im Bankfach untergekommen sind. Obwohl auch da schon der Putz von den Wänden zu rieseln beginnt. Doch neu ist das alles nicht. Jede junge Generation setzt sich, teils liebend, teils hassend, von der Eltern- und Großelterngeneration ab. Daraus ist immer genügend Stoff für Literatur seit Jahrhunderten entstanden. Und der Leser, der hin und wieder in das neue Buch eines jungen Autors blickt, spürt zumeist schon auf der ersten Seite das Knirschen der eiskalten Sätze. Triften die jungen Erzähler und Erzählerinnen immer weiter hinaus, auf der Scholle ihrer insularen Existenz? Ganz im Gegensatz zur Eiseskälte des Erzählens dieser begabten Schweizerin steht der knallig rote Schutzumschlag, dazu und darunter der nervend gelbe Einband. Schmilzt so das Eis zwischen den Buchdeckeln? Nein. Denn alles ist auch ganz anders. Denn das blendende Rot/Gelb ist hier auch ein Bestandteil dieses Buches. Es entspricht dem Titel und meint das Blütenstaubzimmer. Das klingt sehr romantisch, erinnert an fernöstliche Fruchtbarkeitsrituale, bezeichnet aber nur die Hoffnung, über den Berg zu kommen. Zunächst aber sieht der Leser Jo, die Erzählerin, die gerade ihr Abitur bestanden hat, an Studium aber nicht denken mag. Sie entscheidet sich für eine Reise in den Süden, vermutlich ist es Italien. Dort trifft sie ihre Mutter, die sie zwölf Jahre nicht mehr gesehen hat. Nach der Trennung der Eltern lebte sie beim Vater, der im Kleinverlag Bücher herstellt und das Lebensmotto ausgibt: „Wir leben von Büchern.“ Doch mit der Mutter kommt sie nicht zurecht. Tief sitzen die kleinen Kränkungen, die Nachlässigkeiten in den Kinderjahren, die Spannung der Jahre ohne Kontakt miteinander. Lucy, die Mutter, ist ein bißchen närrisch, auf verquälte Art lebenshungrig, jetzt mit einem Maler (schwermütig noch dazu) zusammenlebend. Doch bald wird aus der Dreiergemeinschaft im Haus unter den Olivenbäumen eine Zweiergemeinschaft, die gar keine ist. Alois kommt bei einem Autounfall ums Leben, ob er da selbst nachgeholfen hat, wird zwar nicht ausgespielt, jedoch von Jo vermutet. Jetzt kommt das Blütenstaubzimmer. Die Mutter ist schockiert, schließt sich in ihr Zimmer ein, legt sich in größere Mengen gelben Blütenstaubs (ganz sicher von den Olivenbäumen), doch die Tochter rettet sie aus diesem Scheingrab. Besser werden die Beziehungen zwischen Mutter und Tochter danach auch nicht. Bei den banalen Alltagsdingen scheint auch ein bißchen die Sonne des Südens, doch es bleibt leer, kalt, einsam. Die Mutter stellt die Tochter einem neuen Freund gar als ihre jüngere Schwester vor, ein Bild für den anhaltenden Betrug gegenüber der Tochter. Aktiv war die Tochter, die die Mutter aus der Todeslethargie herausziehen wollte. Noch während sie blütenstaubüberdeckt im eingeschlossenen Zimmer lag, versuchte Jo sie mit geschriebenen Worten in eine andere, eine weitere Welt zu locken: „Erst waren es Ausflüge, dann Reisen in andere Länder. Zuletzt schilderte ich ihr den Plan einer Weltreise.“ Nichts von alledem wird wahr. Statt dessen die „kalten“ Sätze der Erzählerin: „Lucy hat noch nie etwas gefragt.“ Lucy versucht ihr Gedächtnis „totzustellen“, die Abkühlung wird immer größer, vor allem als Jo entdeckt, daß ihr die Mutter einmal ein Paar Schuhe gekauft, sie aber der Tochter nicht geschenkt hatte. Jo betreibt auch das Spiel des Verdrängens. Und es ist ihr bereits seit langem vertraut. Welt durch lesen vergessen. Das war ein Gefühl wie eine „Wand aus Wörtern“, die sie umgibt und schützt, und: „Im Gedächtnis konnte ich jederzeit die Figuren abrufen, die in den Geschichten vorkamen, und mich mit ihnen unterhalten. Ich habe Tausende solcher Unterhaltungen geführt, während ich stumm und artig in der Schulbank saß.“

Während die Mutter eines Tages verschwindet, nur eine Karte verkündet, daß sie auf einer Insel im Indischen Ozean lebe, bleibt die Tochter allein im Haus im Süden zurück. Die Qual des Alltags wird aber eher schlimmer. Aus der Leere der Unmittelbarkeit wird eine Leere der Erinnerung, ja der ganzen Vorstellung vom Leben, das bei einer Abiturientin noch in der Zukunft liegen sollte. Todesgedanken quälen sie. Schon als Kind im Haushalt des Vaters waren ihr Insektenträume gekommen. Wie in Kafkas „Verwandlung“ die Gestalt des Gregor Samsa war das Insekt nachts erschienen, es fraß ihren Schlaf. Später, in Italien, legt sie sich in die kühlende Steinwanne eines Gebirgsbaches und denkt: „Hier sollte ich liegenbleiben ... und werden wie dieser Stein. Anfangs würden vielleicht lärmende Spaziergänger kommen und sich in die Wanne legen, aber irgendwann würde es vollkommen still sein, Moos über mich wachsen, die Kaulquappen würden verschwunden sein, und sogar das Wasser würde versiegen.

Es ist im Verlaufe der Romanhandlung nicht zu übersehen: Jo, die erzählende Figur, leidet nicht nur an der Kälte und Gleichgültigkeit ihrer Eltern, die längst keine mehr sind, sie leidet an ihrer eigenen Existenz. Und das ist die Ursache des kalten Stils, des unaufhörlichen Abtriftens von der sozialen in die Naturwelt. Fluchtgedanken, Selbstmordgedanken, dann folgt eine Phase der kleinen Versuche zusammen mit Rea, die sich auch alleingelassen von den Eltern im italienischen Haus langweilt. Was hat die Toskana-Fraktion nur aus ihren Kindern gemacht? Aber das ist hier nur ein Teil der Wahrheit. Denn auch Rea oder die jungen Leute, denen sie unterwegs begegnet, leben banal, sprechen kalt. Abstoßende Kräfte überall, zusammenbrechende Energiefelder, Beziehungslosigkeiten.

Die Bilder der Erfahrung dieser Generation sind inzwischen so grau und eisgekühlt, daß ihnen auch die Wärme des Südens, das Licht Italiens nicht zum Erlebnis eigenen Lebens verhelfen werden. So rieselt der Alltag, und wenn es auch nicht nur kühl erzählt ist, also kritisch, skeptisch, abwertend, es stellt sich beim Lesen genug von der Langeweile ein, die die Figur der Jo mehr und mehr überspült. Mit dem Bus fährt sie in die nahe gelegene Stadt, die Sonne „liegt hinter einem dicken grauen Himmel verborgen. Darunter stößt die Stadt wie ein sterbendes Tier ihren nach Verwesung riechenden Atem aus.“ Die Bilder galoppieren durch eine durchweg apokalyptische Kulisse, da ist die tote, unbenutzte Bibliothek des Genforschers, und Rea, die nach dem Willen ihres verschwundenen Vaters Cello studieren sollte, spielt als Straßenmusikantin und erliegt dem Sog irrsinniger Videos. Die Technoparty findet in einem ehemaligen Schlachthof statt, Drogen sind im Spiel. Was einst Musik war, ist nun der ohrenbetäubende Schall zerstörerischer Lärmmaschinen, Jo, „selbst ein Teil einer großen Körpermaschine, die zittert und die sich aufbäumt und einen hysterischen Lärm veranstaltet, gegen die schreckliche Stille im Kopf“.

Auch „Sex ist völlig aus der Mode gekommen“, denn, sagt Rea, sie „kenne niemand, der wirklich noch Spaß daran hat. Lügen doch alle“. Die Sprache einer verlorenen Generation? Einer Generation, die ihre Vorfahren schon zu Lebzeiten verloren hat, nun aber auch bereits selbst verloren umhergeistert. Jo hat klare, aber leere, kalte Maximen: „Ich kann alte Leute nicht ausstehen“ oder „Warum lassen wir uns nicht gleich auf den Mond schießen?“

Auch Rea verschwindet wieder und mit ihr der Traum von der großen Flucht, vielleicht nach Milwaukee.

Möglich, daß es doch noch einen Weg gibt, der aus all den Vertracktheiten führt, aber es ist längst ein Drehen auf dem endlosen Eis, die Revue einer begabten Erzählerin heißt hier „Poesie des kalten Blicks“.

Die Schlußbilder sind eindringlich genug, und fast kann sich der Leser schon etwas fürchten, was diese begabte Erzählerin als nächstes schreiben wird. In einem Vorort betritt Jo einen Park: „Schwarze Vögel hängen in den kahlen Ästen. Es fällt der erste Schnee.“ Und wieder die alten, die wie „ausgestopft dicht aneinandergedrängt auf einer Parkbank“ sitzen, „in ihren Augen ist nichts Freundliches. Ich weiß, ich störe sie. Aber ich bleibe trotzdem hier.“ Hier, wo Jo den nächsten Schneeflocken entgegensieht, und einsam - gemeinsam mit den Alten wartend „auf die weiße Schicht über dem Boden. Auf die Decke aus Schnee.“ Vielleicht zu perfekt und zu kühl erzählt für einen Anfang.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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