Eine Rezension von Beate Reisch

Leben, Liebe, Dichtung

György Dalos: Der Gast aus der Zukunft
Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin. Eine Liebesgeschichte.

Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1996, 235 S.

Anna Achmatowa (1889 bis 1966) erfuhr in ihrem Leben nicht das Glück einer frühen oder späten Geburt. Ihr Leben verlief tragisch: Ihr erster Mann, der Dichter Nikolai Gomiljow, wurde 1921 von den Bolschewiken wegen angeblicher Verwicklung in eine Verschwörung hingerichtet. Während der Zeit des Stalinschen Terrors mußte sie erleben, daß viele ihrer Altersgefährten und Freunde verhaftet wurden, in Lagern starben oder Selbstmord begingen, daß ihr dritter Mann und ihr einziger Sohn wiederholt verhaftet wurden. über ihr „sprödes, angstgewohntes Leben“ in jenen Jahren erzählt sie in den Nordischen Elegien (1940). Sie mußte viele Jahre mit der Angst leben, daß eines Tages auch über sie das Netz der Repressionen und des Terrors fällt. Im August 1946 schließlich griff der damalige Chefideologe Andrei Schdanow einige Schriftsteller, Künstler und literarische Zeitungen heftig an. Besonders aggressiv und drohend richteten sich die Angriffe gegen Anna Achmatowa, gerade auf der Höhe ihres Ruhmes, und gegen Michail Soschtschenko, einen Meister der satirischen Novelle (Schlaf schneller, Genosse). Die 57jährige Dichterin wurde als Vertreterin eines „ideenlosen, reaktionären literarischen Sumpfes“, als „halb Nonne, halb Dirne“ verunglimpft, weil sich in ihren Gedichten „Unzucht und Gebet“ vereine. Ein nachfolgender Beschluß des ZK der KPdSU wiederholte diese Schmähung als Begründung für den Ausschluß aus dem Schriftstellerverband, der einem Berufsverbot gleichkam. Die weiteren zehn Jahre konnte sie nur durch die Hilfe eines kleinen Freundeskreises überleben.

Weshalb die von Stalin persönlich sanktionierte Kampagne erst 1946 in Szene gesetzt wurde, warum man beiden Dichtern lediglich die Instrumente der Macht zeigte, sie nicht wie andere Literaten physisch vernichtete, bleibt wohl ein Geheimnis. Antworten auf diese Fragen zu geben, insbesondere bezogen auf Anna Achmatowa, vermochte auch der neueste ihrer Biographen, György Dalos, nicht, trotz „Einblicke in bisher verschlossene Akten“ (Verlagstext). Es ist wohl eher so, daß es keine Antworten geben kann. Weil natürlich jene unzähligen politischen Repressionen und unverhofften Spitzkehren gegen Literaten und Künstler in Stalins Machtbereich nicht schriftlich geplant waren und nicht per Protokoll dokumentiert sind. Diktatoren bevorzugen bekanntermaßen, im Vier-Augen-Gespräch, Angriffe oder die Vernichtung unerwünschter Personen anzuordnen bzw. zu sanktionieren. In Anbetracht dieser lückenhaften Materiallage glaubt Dalos, seinem Leser ersatzweise ein anderes „Geheimnis“ lüften zu müssen - die „Liebesgeschichte“ (siehe Untertitel seiner Achmatowa-Darstellung) der 56jährigen Dichterin mit dem 35jährigen englischen Diplomaten Sir Isaiah Berlin. Diese Love-Story zu lesen ist bisweilen hochnotpeinlich, ganz gleich, ob der Leser die Erzählungen über Anna Achmatowa von Anatoli Naimann zur Kenntnis genommen hat oder nicht. Hochnotpeinlich deshalb, wenn Fragen solchen Kalibers auftauchen: „An welcher Stelle wurde sie von Cupidos Pfeil getroffen?“ (S. 41), und weil die Antworten, inwiefern die alternde Dichterin nun diesen jungen Engländer begehrte (im Lateinischen: cupido - das Begehren), geradezu naturgemäß nichts weiter sein können als wortreiche Spekulationen. Naimann, ihr einstiger Sekretär, Vertrauter und Freund, erzählt schlicht: „Achmatowa sprach immer fröhlich und voll Achtung über ihn ..., hielt ihn für eine sehr einflußreiche Figur im Westen ... Im Gespräch nannte sie ihn oft ironisch-ehrfürchtig ,Lord‘, seltener ,Sir‘.“ Anlaß der literarischen Erinnerung beider Autoren ist eine Nacht im November 1945, in der sich die Begegnung Berlins mit Anna Achmatowa ereignete. Naimann allerdings konnte, sich vieler vertrauter Gespräche erinnernd, keine Wirkung eines Cupido-Pfeils ausmachen. Er entsinnt sich aber einer ihrer „sogenannten ,Übertreibungen‘“ ganz anderer Art: Sie war überzeugt davon, daß der Stalinsche/Schdanowsche Bannfluch von 1946 eine unmittelbare Folge des nächtlichen Besuchs gewesen sei. Für Naimann eine subjektiv verständliche, aber nicht überzeugende Schlußfolgerung. Als Literaturhistoriker und Schriftsteller interessieren ihn Fakten. Insofern ist er sicher, daß die wesentlichste, evidente Wirkung des Berlin-Besuchs darin bestand, daß die Dichterin eine Ermutigung für ihr „englisches Thema“ erfahren habe. Dieses „Thema“ hatte sie aufgenommen, nachdem ihre Jugendliebe B. W. Anrep 1917 nach England emigriert war. Um diese Zeit hatte Anna Achmatowa begonnen, Shakespeare im Original zu lesen, und bis zu ihrem Lebensende verwendete sie Motive seiner Dramen sowie aus den Werken von Byron, Shelley, Keats, Joyce und Eliot, und ebenso sind Einflüsse von Dichtern wie Vergil, Horaz, Dante und Baudelaire von Literaturhistorikern hervorgehoben worden. Jener nächtliche Besucher aus der westlichen Welt hatte also für einen Augenblick der außerordentlich gebildeten Poetin eine Tür zu einer lang ersehnten Welt des freien geistigen Austauschs geöffnet. Als Zeugnisse dafür stehen die Gedichtzyklen Cinque, Die Heckenrose blüht und auch die von ihr verfügte dritte Widmung des Poems ohne Held für Isaiah Berlin. Aber György Dalos bevorzugt die romantische Verklärung dieses Augenblicks. Er schrieb „eine Erzählung, in der es um Liebe geht und darum, wie diese Liebe zum sinngebenden Mittelpunkt aller früheren und späteren Lebenszusammenhänge der Protagonistin wird“ (Vorbemerkung).

Als „Schlagwörter“ des letzten Satzes treten die Wörter „Erzählung“, „Liebe“ und „Leben“ hervor, und da fällt mir eine Binsenwahrheit ein: Es ist eben so, daß die romantischsten Liebesgeschichten nicht das Leben selbst, sondern die Welt der Dichtung bereithält.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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