Eine Rezension von Roberto Simanowski

Befragung auf einem Landgut

António Lobo Antunes: Das Handbuch der Inquisitoren

Luchterhand Literaturverlag, München 1997, 456 S.

„Dońa Tinina kann sagen, was sie will, aber der Herr Doktor hatte nicht die gnädige Frau gern, sondern mich. Er trat in die Küche, im Mund den Zigarillo, den Hut auf dem Kopf, den Daumen in die Gummihosenträger gehängt, schickte die Dienstmädchen mit einer Handbewegung in den Hof, blickte die Nähfrau mit schläfrigen Augenlidern an, bis sie das Plätteisen losließ und auf dem Korridor verschwand, zeigte mit dem Kinn auf den Steintisch, wo ich Teig auswellte

- Du da

ich wollte die Tür zur Speisekammer aufmachen und ebenfalls wegrennen und mich inmitten der Geleegläser und Reissäcke verstecken, doch der Herr Doktor stellte sich mir in den Weg, sein Zigarillo berührte beinahe meine Nase

- Halt still

und ich war es, die er über die Spüle beugte, mich packte er kräftig am Haar, und nicht die gnädige Frau, und ich bat

- Tun Sie mir bitte nicht weh tun sie mir bitte nicht weh

der kleine Joâo schaute uns heimlich vom Garten aus zu, bis der Herr Doktor sich von mir löste und sich dabei schüttelte wie ein nasser Hund, ich kehrte zum aufgehenden Teig zurück, die Nähfrau fing wieder an zu plätten, die Uhr schlug fünf Uhr nachmittags, und im Salon die Stimme von Professor Salazar“

Diese wenigen Worte der Köchin lassen erahnen, wie Don Francisco auf seinem Landgut mit dem Personal umzugehen pflegte. Dabei erstaunt weniger die sexuelle Attacke als die Reaktion der Köchin. Sie fühlt sich durch die Wahl des Ministers offenbar noch geehrt, obgleich sie dann die gemeinsame Tochter im Stall zur Welt bringen und alsbald einer Witwe in der Lissabonner Vorstadt überlassen mußte. Aber es ist die Sicht der Dinge, die ihr durchs Leben half.

Antunes‘ Roman beginnt auf dem Landgut des Minister Don Francisco, der zu Zeiten des Salazar-Regimes einer der mächtigsten Männer Portugals war. Auf diesem Landgut besprach der Minister mit dem Präsidenten Salazar die Staatsgeschäfte, dort schoß er auf sein Spiegelbild, als seine Frau ihn verließ, dort empfing er die Apothekerwitwe zu nächtlicher Zeit, dort drückte er dem verängstigten, verachteten Sohn ein Gewehr in die Hand und befahl: Schieß auf jeden Kommunisten, der sich nähert!

Jetzt, einige Jahre nach der Revolution, ist das Landgut zu einem Ferienparadies mit Golfplatz geworden. Der einst mächtige Minister sitzt mit anderen Tattergreisen im Altenheim, „mit Windeln im Pyjama, auf dem Sofa gestapelt wie Stühle, Kadaver, über die ein großherziges Radio Flugzeugunfälle ohne Überlebende und Tanzmusik ergießt“.

Portugal hat sich verändert, und für Antunes ist es Zeit, sich zu erinnern. Dazu sind Minister und Landgut die Ausgangspunkte. Von ihnen her dehnt sich der Roman räumlich und personell allmählich aus. So kommen nach dem Sohn des Ministers bald auch die Haushälterin und die Köchin zu Wort, die Tochter der Köchin und ihre Ziehmutter, die Geliebte des Ministers und der Portier im Haus der Geliebten des Ministers. Und da diese 19 Personen in ihren 29 Berichten ganz verschiedene Dinge zu erzählen haben, fehlt kaum eine Seite der portugiesischen Gesellschaft: weder der Haß des Portiers auf seine fett gewordene Frau, noch die Konzentrationslager in Angola, wo Kommunisten an Ruhr und Folter starben.

Das Ganze liest sich wie die Befragung durch eine anonyme Person: Nein, schreiben Sie das nicht! heißt es an einer Stelle, oder: Lassen Sie doch Ihr Tonband aus! oder: Wie Haben Sie mich gefunden? Ein Inquisitor, der wissen will, wie es gewesen ist. Sein Verfahren zeigt zugleich, wie man Geschichte am besten aufarbeitet: indem jeder die eigene erzählt.

Antunes gibt vor, er habe nur O-Töne notiert. Das ist nicht der Fall, dazu ist das Buch zu kunstvoll komponiert und stilistisch zu brillant. Aber die Fiktion der Protokolliteratur hat ihren Sinn und ihren Reiz: Sie ermöglicht ein unchronologisches, am chaotischen Erinnerungsgang der Befragten orientiertes Erzählen und gestattet unterschiedliche Perspektiven auf wiederkehrende Episoden und Personen. Sie versetzt andererseits den Leser in die Rolle eines Kommissars, der all die angesammelten Berichte vergleicht, allmählich die kleinen Lügen durchschaut und bald mehr über die Befragten weiß, als diese preisgeben wollten.

Über die bisherigen Bücher des António Lobo Antunes heißt es, sie verbinden Hieronymus Bosch und Otto Dix auf dem Feld der Literatur. Dies gilt auch für Das Handbuch der Inquisitoren. Die Wucht dieses Romans bestätigt, was Antunes über sich selbst sagt: „Wenn ich an einem neuen Buch sitze, arbeite ich täglich 13, 14 Stunden. Ich muß immer schreiben. Wenn ich nicht schreibe, habe ich nicht geduscht.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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