Eine Rezension von Gudrun Schmidt

Liebevolle Miniaturen

Pier M. Rosso di San Secondo: Wedekind in der Klosterstraße
Feuilletons aus dem verrückten Berlin.

Aus dem Italienischen übersetzt von Carola Jensen.
Herausgegeben von Gaetano Biccari.
Verlag Das Arsenal, Berlin 1997, 120 S.

Berlin zu ergründen, den Geheimnissen dieser quirligen, wunderbaren, widerspruchsvollen Stadt auf die Spur zu kommen, dieser Versuchung sind immer wieder Literaten, Musiker, Maler verfallen. Legendär die Liebeserklärungen. „Ich weiß nicht genau, was mich an dieser Stadt anzieht, aber mein Geist entfaltet sich da. Ich kann dort tiefer atmen ... Berlin erregt mich - und erstickt mich mit rasenden Schatten“, bekannte der sizilianische Dramatiker und Erzähler Pier Rosso 1931. Wie er die Stadt empfand, ist in dem kleinen Bändchen Wedekind in der Klosterstraße nachzulesen. Es sind Feuilletons, geschrieben in den Jahren 1928 bis 1932 für die Zeitungen „La Stampa“ in Turin und „Il Seculo XX“ in Mailand. Liebevolle, genau beobachtete Miniaturen vom Alltag, vom Leben und Überleben in der Großstadt. Für Rosso, der einem sizilianischen Adelsgeschlecht entstammte, war Berlin „der Mittelpunkt der modernen Welt ... Kreuzungspunkt des europäischen Geistes“. Bekannt geworden ist er vor allem als Dramatiker. Seine Stücke, im Stil des Teatro grottesco, gehörten in den zwanziger Jahren zu den meistgespielten in Italien. Es gab Aufführungen auch in New York und in Paris. Auf deutschen Bühnen gelangten sie u. a. in Düsseldorf, Gera und Berlin zur Aufführung. Die Berliner Premiere Zwischen tanzenden Kleidern fand allerdings bei der Kritik wenig Beifall. Rosso, der zu diesem Anlaß in die Stadt gekommen war, schien das wenig anzufechten. Er blieb. Für vier Jahre ließ er sich hier nieder. Ein Grund mag auch gewesen sein, sich der dumpfen Atmosphäre des Mussolini-Faschismus in seiner Heimat zu entziehen. In Berlin traf er zu dieser Zeit auch auf andere Landsleute wie die Schriftsteller Pietro Solari, Massimo Bontempelli und Luigi Pirandelli, mit dem Rosso Freundschaft verband. Fast jeden Tag sah man sich im Romanischen Café.

Rosso ist kein oberflächlicher Flaneur, der sich vom schönen Schein blenden läßt und jeder Novität hinterherjagt. Ihn interessiert: Wie lebt der Berliner? Wie kommt es zu den Wesensunterschieden zwischen den Einwohnern der verschiedenen Bezirke? Welche soziale Moral prägt die Stadt? Er hat sich genau umgehört und umgesehen - im wohlanständigen Westen ebenso wie in den Vierteln des Nordens, um den Gesundbrunnen und im Wedding, im südlichen Tempelhof und besonders im Osten, rund um den Alexanderplatz, wo „eine buntgewürfelte, umtriebige Menge wie in einem Ameisenhaufen durcheinander“ läuft. Noch immer ist die Stadt „voll Unternehmungsgeist, zeigt jedoch zweifelsohne Zeichen von Ermüdung und Überdruß“, befindet er. Vorüber sind die Verrücktheiten der letzten Jahre. „Das wütende Toben und die leidenschaftliche Erregung, die das Leben der Metropole unentwegt erschütterten, haben sich zu einem Bedürfnis nach Sammlung gewandelt, zu dem Wunsch, sich wiederzufinden.“ Insofern ist der Untertitel nicht ganz zutreffend. Rosso erzählt eher behutsam, spürt Zwischentönen nach. Vor allem sind es die kleinen Leute, denen seine Sympathie gehört. In der Titelgeschichte berichtet er über ein Theaterchen in der Klosterstraße („ein Loch, in das man den Fuß mit einem gewissen Zögern setzt“), wo mit großem Erfolg seit Jahren Wedekinds Büchse der Pandora gegeben wird. Im Publikum sitzen „brave Mütter mit ihren Töchtern im Festtagskleid, junge Männer mit ihren Verlobten, ernste und nachdenkliche Familienväter“. Sie sind Metzger, Bäcker, Kurzwarenhändler oder Handlungsgehilfen. Ihn fasziniert, wie ein solches Publikum von der Poesie des bei Intellektuellen und der Bourgeoisie schon als überholt geltenden Autors Wedekind begeistert ist. Reizvoll in Rossos Betrachtungen auch der Blick des Fremden, der feinfühlig Unterschiede im Verhalten und in der Atmosphäre der Stadt wahrnimmt. Herrlich die Studie „Bei Wertheim“, in ihrer Dialogform eigentlich eher ein Mini-Drama mit dem Fräulein von der Auskunft als Mittelpunkt. Hier läßt sich der Theaterautor Rosso (bis hin zu den präzisen Regieanweisungen) nicht verleugnen. Schlaglichtartig werden in dem hektischen Getriebe eines Warenhauses Situationen und Befindlicheiten unterschiedlichster Leute erhellt.

Das kleine Bändchen hat drei Teile: „Moderne Menschen“, „Junge Frau um 1930“ und „Berlin am Meer“. Vor allem die Berlinerinnen und ihre Lebensumstände interessieren ihn. Die Ladenmädchen, Kassiererinnen, Stenotypistinnen, Angestellten, „die klaglos für geringes Entgelt die tägliche Arbeit dieser so ungestümen Stadt mit bewundernswerter Energie verrichten“. Die Berlinerin reinsten Wassers, mutmaßt Rosso, könnte in der Gegend des Alexanderplatzes, im Norden oder auch in Spandau geboren sein. Am liebsten, so stellt er sich vor, sollte sie an der äußersten Stadtgrenze aufgewachsen sein, „wo die von hohen schwarzen Fichten umstandenen Seen die Werkstätten spiegeln und die Ausläufer der Stadt sich in den Wald hineinfressen, ein Schauspiel, in dem Natur und Menschen heftig widerstreitende Rollen einnehmen. An dieser Grenze nämlich, und nicht in den ausgebauten Zentren des eleganten Westens wie in der Nähe der Friedrichstraße, findet man den gewalttätigen und anmaßenden Ursprung der alles verschlingenden Metropole ...“ Das Äußere der Berlinerin beschreibt er so: „Robust und kräftig, in manchen Gebärden geradezu herrisch, sehr helle, leicht bernsteinfarbene Haut, dichtes, weißblondes Haar, das, obwohl kurz, die Beschaffenheit einer Mähne hat. Blaue Augen ohne Tiefgründigkeit, aber von der Klarheit sauberen Wassers ... Sie verfügt über gute, sogar liebenswürdige Manieren, kann allerdings weder den Argwohn verbergen, mit dem sie geboren wurde, noch die Schlauheit, die sie erwerben mußte, um als Besitzlose im Getriebe dieser riesigen Stadt nicht unterzugehen.“ So setzt sich aus vielen Mosaiksteinen eine farbenreiches Bild zusammen. Rossos Texte sind vergnüglich und anregend zu lesen. Manchmal wünschte man sich eine Zeitmaschine. Was würde Rosso heute wohl aufschreibenswert finden von den Verrücktheiten der Love Parade oder der Bauwut am Potsdamer Platz?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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