Eine Rezension von Licita Geppert

Ein Jahrhundert zieht vorüber

Jürgen Kuczynski: Freunde und gute Bekannte

Gespräche mit Thomas Grimm.
Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1997, 146 S.

Dieses Buch schickte mir Jürgen Kuczynski postum, vielmehr in seinem Auftrag der Verlag. Es war ein eigenartiges Gefühl, als ich die Verpackung öffnete: Post aus dem Jenseits? Um so lebendiger und lebensfroher war danach die Lektüre.

Das Jahrhundert zieht an einem vorüber, liest man die Erinnerungen Jürgen Kuczynskis an Freunde und Bekannte. Und, verblüffend, die Familienerinnerungen reichen bis in die Anfänge des vorangegangenen, des 19. Jahrhunderts zurück. So wird diese Sammlung von Anekdoten zugleich zu einem Spaziergang durch die zweihundertjährige progressiv-humanistische Geistesgeschichte Deutschlands und Europas bis in die Gegenwart. Einige der Geschichten sind bekannt: aus anderen Veröffentlichungen, seinem Tagebuch, Interviews oder Gesprächen, wo sie eingeordnet waren in einen historischen oder sachlichen Zusammenhang. Etliche aber waren mir bislang unbekannt.

Die Überschriften der einzelnen Kapitel, wie „Zwischen Badewanne und Klodeckel“ oder „Der Schüttelreim-Wettbewerb“, passen zum verschmitzten Charakter Kuczynskis, ihre Funktion als Titel dient jedoch eher als Vorwand für schöne, witzige Formulierungen. Stärker noch als in anderen seiner Bücher wird Kuczynski in dieser Fülle von Anekdoten über Menschen, die sein Leben direkt oder manchmal auch nur indirekt berührten, als lebensvoller Zeitgenosse sichtbar, als besessener Wissenschaftler von Weltrang, aber stets auf dem Boden der Realität lebend.

Berühmte Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts (hier ist das ausführliche Personenregister sehr hilfreich), mit denen Kuczynski gleichberechtigt verkehrte - darunter Jaspers, Kautsky, Einstein, Lukács, Kisch, Brecht, Brandt, Ulbricht, Honecker -, werden in seinen Erzählungen wieder zu Menschen, mit Vorlieben, Schwächen, Marotten. Der Leser erfährt, wie charakterliche Eigenheiten bisweilen über staatspolitische Belange entschieden. Wir erfahren von Treppenwitzen der Geschichte. Das macht die Lektüre amüsant und spannend und erhellt im nachhinein manch unverständliche Entwicklung. Brecht tauschte mit Kuczynski Zigarren gegen Krimis („Detektivromane“), Honecker wurde zu seinem „Briefträger“ für das „Neue Deutschland“, Einstein wurde von ihm vor Nutten und Zuhältern beschützt, die amerikanische Armee verdankt Kuczynski eine noch heute gültige Dienstvorschrift über das Duschen unter freiem Himmel ...

Anekdoten über seine Eltern und Vorfahren, über seine Frau, aber auch der Abschnitt über die Geschichte seiner Bibliothek, der wohl bedeutendsten Privatbibliothek Deutschlands, geben Einblick in Kuczynskis Entwicklung und gleichzeitig in die Schaffensweise dieses großen Gelehrten, dessen Wissen weit über sein eigentliches Fachgebiet hinausreichte. Er selbst stellt fest, daß dies ohne diese in zwei Jahrhunderten gewachsene Bibliothek unmöglich gewesen wäre. Dies sollte sich manch einer heute zu Herzen nehmen.

Wie schön für uns, daß Thomas Grimm den uralten Jürgen Kuczynski zu diesen Gesprächen überreden konnte, die auch in einer Videofassung erhältlich sind.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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