Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Literarische Landschafts-Erforschungen

Günter de Bruyn: Mein Brandenburg

Mit Fotos von Barbara Klemm.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997, 160 S.

Wer über die Mark Brandenburg schreibt, hat immer den einen Ur-Vater, der über allem, in allem steht. Es ist Theodor Fontane, dessen hundertster Todestag in diesem Jahr gefeiert wird und dessen Werke lebendig wie eh und je sind. Seitdem das Wandern durch die Mark wieder zu einem gesamtdeutschen Vergnügen geworden ist, erfreuen sich auch Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg verstärkter Beliebtheit. Warum das so ist, erklärt sich am besten aus Fontanes Mitteilungen selbst. In seinem Vorwort zu den „Wanderungen“ vom November 1861 schreibt er, daß er den Anstoß zu diesen Unternehmungen in der schottischen Grafschaft Kinross bekam. Den schönen und wahren Gemeinplatz zitierend, daß uns erst die Fremde lehrt, „was wir an der Heimat besitzen“, bekennt Fontane, daß er dies an sich selber erfahren habe. Die ersten Anregungen zu seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg sind ihm „auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluß.“

Was Fontane an Erlebnissen und Erfahrungen zusammentrug, überstieg weit das Maß seiner Erwartungen: „Jeder Fußbreit Erde belebte sich und gab Gestalten heraus, und wenn meine Schilderungen unbefriedigt lassen, so werd ich der Entschuldigung entbehren müssen, daß es eine Armut war, die ich aufzuputzen oder zu vergolden hatte. Eine Fülle, ein Reichtum sind mir entgegengetreten, denen gegenüber ich die bestimmte Empfindung habe, ihrer niemals auch nur annähernd Herr werden zu können.“

Günter de Bruyn, in Berlin und der Mark Brandenburg lebend, ist es ganz ähnlich ergangen. Auch er kennt Fülle und Reichtum dieser Landschaft, auch er weiß, daß er „ihrer niemals auch nur annähernd Herr werden“ kann. Ein erstes literarisches Signal von de Bruyns brandenburgischen Erkundungen ist seine „Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte“, so der Untertitel, die im Jahre 1978 unter dem Titel Märkische Forschungen erschien.

Frappierend war damals zu lesen, wie sich die Figur, die vorgeblich ein Jakobiner gewesen sein wollte, als jämmerlicher Zensor entpuppte. Frappierend ist auch heute noch zu lesen, was Günter de Bruyn über die Faxen der Zeit schrieb: „Diktatoren der Mode wirken wie andere auch: Erst zwingen sie zur äußerlichen Unterwerfung, dann folgt, nach einer Periode der Gewöhnung, die Verinnerlichung. Was einst Zwang war, wird nun freier Wille. Was einmal ungewöhnlich, häßlich, komisch wirkte, ist nun schön. Bei einem geht das langsamer, beim andern schneller, manche werden sich des Wechsels kaum bewußt und wissen gar nicht, wie willfährig sie dem Zeitgeschmack gehorchen.“

Der dies Ende der siebziger Jahre in der DDR erzählte, hat sich weitgehend dem Zeitgeschmack entzogen. Auch dadurch, daß er seine Stoffe für Bücher mehr und mehr in der Geschichte suchte und fand. Daß dies kein Irrweg war, zeigt auch das opulent ausgestattete Lese-Foto-Buch Mein Brandenburg. Ein Buch, das zuerst das Land Brandenburg zum Thema hat, wer aber genauer hineinblickt, wird neben dem Friedersdorfer Politiker, Gutsherrn, Offizier und Schriftsteller Friedrich August Ludwig von der Marwitz die Dichter Schmidt von Werneuchen, Friedrich de la Motte Fouqué (Vater der berühmten Undine) und - sozusagen im Mittelpunkt stehend - Theodor Fontane treffen. Fontane nun wird sich in seinen „Wanderungen“ und auch in seinem letzten Roman an den ehrwürdigen General von Marwitz erinnern, ebenso in den „Wanderungen“ wird er im Gamengrund bei Werneuchen und Tiefensee den eigenwilligen Dichter der ländlichen Idyllik und der pittoresken Einfalt, den Pfarrer Schmidt treffen. Günter de Bruyn hat über diesen eigentümlich stillen Mann einen wunderbaren Text geschrieben. Der Leser mag staunen, wie hier ein Autor des 20. Jahrhunderts weit mehr Verständnis für einen Pastor-Dichter des frühen 19. Jahrhunderts aufbringt als einstige Dichterkollegen. Die Naivität Schmidts forderte beispielsweise Goethe zu seiner Parodie Musen und Grazien in der Mark heraus. Günter de Bruyn, Fontane und nicht Goethe nahestehend, kontert so: „Wer aber ein schlichtes Gemüt nur verachten kann, Unbeholfenheit, auch so origineller Art, nicht verträgt oder, wie Schmidts Zeitgenossen, märkischen Sand für literaturunwürdig hält, der bleibt dem Werneuchener Pfarr- und Dichterhaus besser fern.“

Es ist de Bruyns Hoffnung, daß das Erlebte und Erforschte, hier dem Leser liebevoll und kundig mitgeteilt, auch den Leser, der nicht unbedingt Märker sein muß, anregen möge. „Noch besser wäre es freilich“, schreibt er im Vorwort zu dieser Ausgabe, „man würde durch die Lektüre angeregt werden, die beschriebenen Städte und Dörfer, Bauten und Landschaften an Ort und Stelle selbst zu betrachten und in die Bücher der erwähnten Autoren wieder einmal hineinzusehen.“ Dies ist zugleich für den Rezensenten eine Gelegenheit, ein „Geheimnis“ zu lüften, das der überaus bescheidene Günter de Bruyn in diesem Buch nicht mitteilt. Er hat nicht nur vier vorzügliche Essays über Fouqué, Schmidt von Werneuchen, Fontane und Marwitz geschrieben, er hat bereits in den achtziger Jahren zu allen diesen Autoren auch eine Herausgabe veranstaltet. Daß er dem gelobten Schmidt von Werneuchen dabei mit dem Band Einfalt und Natur eine Edition besorgte, die dieser zu seinen Lebzeiten nie erleben konnte, verdient wieder einmal hervorgehoben zu werden. Zum Essay Fontane in Kossenblatt gehört auch der von de Bruyn herausgegebene Band mit den „schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, schon deshalb, weil darin so gute Texte wie „Eine Osterfahrt in das Land Beeskow-Storkow“, „Die Wendische Spree oder: Von Köpenick bis Teupitz an Bord der ,Sphinx‘“, „Kleists Grab“, „Wanderungen durch die Ruppiner Schweiz“, „Der Blumenthal“ und neben weiteren der pikant-heitere Text „Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte“ in ihren Erstdrucken vorgestellt wurden, die oft farbiger und unmittelbarer, erlebnismäßig reichhaltiger als die späteren Fassungen die Wandereindrücke festgehalten haben. Wie gesagt, das alles ist Hintergrund dieser Edition, in der es bedauerlicherweise keinen einzigen Hinweis auf jene Bücher gibt, die Günter de Bruyn (zusammen mit Gerhard Wolf) in der einst sehr gefragten Reihe „Märkischer Dichtergarten“ (Buchverlag Der Morgen, Berlin) herausgegeben hat. Der Verlag erwähnt nur den Vorläufer dieser Edition, 1993 im S. Fischer Verlag erschienen.

Mein Brandenburg, das sind aber nicht nur literarische Streifzüge durch die Mark, es sind auch Fahrten, Wanderungen, Betrachtungen und Eindrücke über Spreeland und Oderbruch. Die Bewohner dieser vor kurzem durch Hochwasser so gebeutelten Region heißen seit langem Oderbrücher. Und auch unter ihren Vorfahren weilte nicht selten der alte Fontane. Hier im Oderbruch, genauer in Letschin, verdient besondere Erwähnung ein Standbild, das an Friedrich den Großen erinnert. Denn Friedrich hat nun einmal die Trockenlegung großer Teile des Oderbruchs veranlaßt, also gilt ihm diese Ehre. De Bruyn reflektiert mit dem Denkmal auch jüngere Geschichte: „Nach 1945, als man Preußen für Hitler verantwortlich machte, sollte es eingeschmolzen werden, wurde aber von einem Bauern sichergestellt, vierzig Jahre lang in einer Scheune verborgen und so dem Dorfe erhalten, wo es heute, neben dem Gasthaus Zum alten Fritz, wieder steht.“

Das Oderbruch wird als eine Landschaft beschrieben, in der sich nicht nur Gutsherrn, Pfarrer und Dichter bewegten. Auch der Minister und Reformer Hardenberg lebte hier, dessen Ort Neuhardenberg ein früher Schinkelbau schmückt, ein Ort, der zeitweilig von der Landkarte verschwand und aus politischen Gründen in Marxwalde umgetauft worden war. Und Friedersdorf liegt auch in dieser Gegend, hier treffen wir schon wieder auf den General von Marwitz. Günter de Bruyn erwähnt bei dieser Gelegenheit dessen Autobiographie Nachrichten aus meinem Leben für meine Nachkommen, unterschlägt aber, daß er selbst zusammen mit seinem Marwitz-Essay diese Autobiographie schon 1989 veröffentlicht hat. Es sieht mitunter sogar so aus, als verschanze sich Günter de Bruyn hinter Fontane, denn er nennt dies „ein Buch, das Fontane liebte und für seinen Roman (Vor dem Sturm) viel, teilweise fast wörtlich benutzte.“

Die Historie ist nicht stehengeblieben. Verständnis für Geschichte, hier wird es entwickelt und mit vielen Beispielen lebendig vorgestellt. Auch daß ein Nachfahre jenes Marwitz‘ nach dem Fall der Mauer und der Grenzen nach Friedersdorf zurückkehrte, um dort fortzufahren, wo einst der brandenburgische Adel seine besten Traditionen verwirklichte, gehört zu den spannenden Kapiteln dieses Buches.

Der Autor macht historische Brüche und Kontinuitäten sichtbar. Daß der Bezug auf Fontane vielleicht zu oft in den Texten erscheint, muß kein Nachteil sein, denn de Bruyn verschweigt hier nicht seine Vorbilder, Anreger und Stichwortgeber. Und wer Günter de Bruyns Autobiographie Zwischenbilanz kennt, weiß, daß dieser Erzähler und Essayist den Mittelpunkt seines Lebens immer in der Mark Brandenburg sah. Mit seinen eigenen Worten: „Diese Neigung konnte lebenslang währen, weil sie an ihrem Gegenstand immer Neues (das auch Altes sein konnte) entdeckte, und weil sie in sich selbst wandelbar war. Liebe, die auf Stillstand beharrt, rostet bekanntlich; nur die sich erneuernde bleibt dauerhaft.“

Auch wenn die neueste Zeit schon wieder Veränderungen mit sich bringt, die beim ersten großen Lob über das Ende der DDR noch nicht vermutbar waren, Günter de Bruyn nimmt alles wahr, was um ihn herum - und das heißt in der Mark Brandenburg - vor sich geht. Aus den Parkplätzen der Marktplätze sind wieder Handelsplätze geworden, „in Beeskow vom Durchgangsverkehr umtobt“. Überhaupt der Verkehr! Zwar verfielen zu DDR-Zeiten viele Dörfer und Gutshöfe, auch Schlösser und Parkanlagen wurde zu LPG-Niederungen, doch das moderne Auto bedroht nun die aus der Idylle herausgerissene Natur der Mark. De Bruyn: „Die Baumvernichtung an den Straßen hat im letzten Jahrzehnt schon begonnen. Um in den Dörfern und Städten breitere Fahrbahnen und gepflasterte Gehwege zu schaffen, hat man alte Linden und Kastanien geopfert. Damit die Autos hindurchrasen können, hat man die Dörfer schattenlos, kahl und unansehnlich gemacht.“ Doch es gibt noch genug Natur, und sei es das Fallobst auf Fahrbahnen, das Bussardpaar in den Zweigen der Bäume, der kühlende Schatten der Bäume an den Straßen, den hier weithin wunderbaren Alleen. „Eine hundert Jahre alte Allee sollte man wie sein eigenes Haus bewachen und schützen; denn sie braucht auch in modernen Zeiten wieder hundert Jahre zum Wachsen. Reichtümer dieser Art gibt man nicht widerstandslos weg.“ (Günter de Bruyn) Der Blick auf Birkenbäume, eine ganze Allee, die tief in die märkische Landschaft hineinführt, das ist auch das erste Bild, das sich dem Leser beim Betrachten des Schutzumschlages bietet. Ganz in der Ferne ein einzelnes kleines Auto. Eine List der Fotografin Barbara Klemm, die gleichberechtigt neben Günter de Bruyn auf dem Schutzumschlag genannt wird. Ihre wunderbaren Fotos geben mehr von dem wieder, was war, als von dem, was leider schon ist. Man kann dieses Buch zweimal erfahren, einmal als Lesebuch, das andere Mal als Fotobuch. Vieles von dem, was im Text genannt wird, ist auch im Foto zu sehen. So etwa das Innere der Friedersdorfer Kirche, gerade wieder neu erstanden wie auch Chor und Gruftanbau. Auch Schinkels Kirche in Neuhardenberg leuchtet wieder neu inmitten der etwas zu weiträumigen Anlage rundherum. Mal zeigt die Fotografin den Alten Fritz in Letschin (wiederauferstanden aus der Scheune), dann einen verlassenen Oderkahn. Im Hintergrund entdeckt der Betrachter den Angler, daneben sein Rad. Details, oft ganz wie am Rande, so ist es zu erleben, wenn der Wanderer die Mark durchstreift. Immer wieder Wasser, die Spree, die Oder, die vielen von Bäumen und dichten Wäldern umstandenen märkischen Seen. Daß die Mark noch immer ein schwach besiedelter Landstrich ist, kann man auch aus den Fotos von Barbara Klemm ablesen. Eine Dorfstraße, nur von einem Radfahrer ausgefüllt, Fontanes Denkmal in Neuruppin wird von einer alten Frau auf einer Bank sitzend begleitet. Behutsame Nuancen. Der Dichter der Undine, Fouqué, hat nach den Befreiungskriegen von 1813 seinen Reiterdegen in der Nennhausener Dorfkirche aufgehängt. Auch das ist ein Foto wert, blättert man um, sieht man Fouqués Grabstein auf dem Berliner Garnisonfriedhof an der Linienstraße. Inmitten wildwachsender Natur.

Nicht jedes Foto findet in den Essays eine Entsprechung. Aber es gibt überall Berührungen, Hinweise, Wegkreuzungen. Die neoromantische Kirche in Petzow, Schloß Sanssouci, die Heilandskirche in Sacrow, der Blick von den Säulenkolonnaden hoch zum Ruinenberg nahe Sanssouci. Einmal durchstreift ein Schäfer mit seiner Herde das Land, ein zauberischer Birkenhain ist zu sehen, und auch ein Foto aus Halbe bei Teupitz, wo sich der größte deutsche Soldatenfriedhof in der Mark Brandenburg befindet. Landschaft und Architektur, Nähe und Weite, in diesen Fotos ist Vergangenes und Vergehendes eingefangen. Günter de Bruyn meint einmal, daß jede Fahrt in die Mark „melancholisch endet“, wegen der Zersiedelung, wegen der Verluste an historischen Denkmälern. Noch gibt es für den Wanderer und für die Fotografin genug zu sehen, was eher einer Melancholie gleicht, die ganz weit zurück sich versetzt. In die ganz alten Zustände, wovon es mehr zu lesen als zu sehen gibt. Das aber ist ein hervorstechender Zug dieser Fotos: Sie zeigen etwas und vermögen zugleich den Betrachter an etwas zu erinnern, was nicht auf diesen Fotos zu sehen ist. Solcherart poetische Visionen in Schwarzweiß kontrastieren mit der Farbigkeit, die der Erzähler und Essayist Günter de Bruyn in dieses Buch gebracht hat.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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