Wiedergelesen von Klaus Hammer

Armin Müller: Der Puppenkönig und ich
Eine Heimkehr nach Schlesien.

Greifenverlag, Rudolstadt 1986 Neuauflage: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn, Würzburg 1997, 307 S.

1986 durfte im Greifenverlag Rudolstadt ein Buch erscheinen, das in literarisches Neuland, in höchst komplizierte und sensible Bereiche der Vergangenheit der Deutschen und Polen, vorstieß. Über das Thema Schuld und Sühne der Deutschen an Nationalsozialismus und Krieg, über das Thema Befreiung und Wandlung war bis dahin viel geschrieben worden, doch die Aussiedlung der Deutschen aus Polen stellte ein Tabu-Thema für die Literatur in der DDR dar. Der Roman Der Puppenkönig und ich unterlief die offizielle Version „brüderlicher“ Zusammenarbeit zweier sozialistischer Staaten und legte den Finger auf ein bisher verdrängtes Kapitel gemeinsamer Geschichte, das erst noch aufzuarbeiten war. Dabei hatte es sich auch sein Autor Armin Müller, 1928 im schlesischen Schweidnitz geboren und seit 1946 in Weimar ansässig, nicht leicht gemacht und jahrzehntelang selbst jedes Erinnerungsgefühl an die Kindheitsheimat Schlesien, in der nunmehr Polen wohnten, unterdrückt. Dennoch kehrte die Heimatlandschaft - punktuell und in anderer Topographie, als Real- und Sehnsuchtslandschaft - in seiner Lyrik, Dramatik und Prosa wie auch in seiner Malerei immer wieder. Nunmehr, mit der Wiederauflage des Romans, mehr als 10 Jahre später, spricht das Buch zu uns unter ganz anderen Bedingungen und Vorzeichen, die es erlauben, daß gerechter und damit auch widerspruchsvoller über die Beziehungen beider Nachbarvölker nachgedacht werden kann. Nicht mehr nur das Leid der einen und die Schuld der anderen stehen einander gegenüber, sondern beides ist wechselseitig miteinander verbunden. Vielleicht ist heute erst das richtige Verständnis für dieses damals so spät behandelte und doch noch zu früh gekommene Thema diesseits und jenseits der Oder gegeben.

Der Roman skizziert in einer von Bildern durchwobenen Sprache eine Fülle von Begegnungen, in denen die Welterfahrung der 16jährigen Ich-Figur faßbar wird. Aufgewachsen in einer scheinbar heilen, fast märchenhaften Dorfwelt im schlesischen Eulengebirge, zwischen Himmelsstiege und Guckei, in der Obhut des Großvaters, des „Puppenkönigs“, der alles Böse und Schlechte der Welt von ihm fernhalten wollte, wird der Junge in die Gefährdungen und Wirren der letzten Kriegswochen hineingerissen. Er gerät in russische Kriegsgefangenschaft, entflieht und schlägt sich zusammen mit Staschek, einem nicht viel älteren Polen, der aus der Armee Parandowski desertiert ist, zurück in seine Heimat Schlesien durch, das jetzt Slonsk heißt und das er nicht mehr als seine Heimat betrachten darf.

Der junge Mann ist ein empfindsamer und erlebnisfähiger Mensch, aber er ist noch nicht imstande, sich selbst über seine Empfindungen und Erlebnisse Rechenschaft abzulegen. Er weiß von sich ebensowenig wie von der Welt. Die Erscheinungen der Wirklichkeit - und Träume, Wunschvorstellungen, Märchen bezeichnen nur die andere Seite der Wirklichkeit - sind für ihn Symbole, deren geheimnisvolle Bedeutung er jedoch nur ahnt, Zeichen, die für etwas noch nicht bewußt Erkanntes stehen. Sie sollen, in Situationen tiefster Verzweiflung, Hoffnung erwecken auf Zukünftiges, sie sind Vorzimmer zum Leben, aber noch nicht das Leben selbst. Es sind jene Situationen, die im klassischen Bildungsroman - der Autor kommt aus Weimar - die Lehrjahre eröffnen. Armin Müller, der für diesen Roman den Eichendorff-Literatur-Preis 1997 erhalten hat, delegiert die Erzählerfunktion ganz an die Ich-Figur; Vergangenheitshandlung und Erzählzeit erweisen sich als weitgehend identisch. Aber die einseitige Perspektive des Ich-Erzählers wird durch die Figur Stascheks aufgehoben und der gleiche Gegenstand so von zwei Seiten beleuchtet. Zudem ist da immer die innere Auseinandersetzung mit der Welt ohnmächtiger Humanität des Großvaters und damit der eigenen Kindheit. „Er hat mir nur die halbe Welt gezeigt, vor die andere Hälfte die Hand gehalten.“ Der Junge lernt, sich neben sich zu stellen, sich in den anderen - den Feind-Freund Staschek - hineinzuversetzen und sich dann selbst zu erkennen. Das ist Gegenstand des Gesprächs und der Auseinandersetzung zwischen den Angehörigen zweier Völker, eine Voraussetzung für ein zwar nicht konfliktfreies, aber doch dauerhaftes Zusammenleben.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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