Wiedergelesen von Helmut Fickelscherer

Alfred Wellm: Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar

Roman
Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1968, 362 S.

Ende der sechziger Jahre mag so mancher Leser in der DDR nach dem anscheinend fiktiven Ort mit dem außergewöhnlichen Namen Descansar gesucht haben, nach jenem Fischerdorf am Meer, in dem ein guter Freund auf den längst versprochenen Besuch des Lehrers Gustav Wanzka wartet. Doch der Besuch kommt wieder einmal nicht zustande, denn dieser Gustav Wanzka muß sich, obwohl mit einer gewissen Erleichterung seiner Vorgesetzten gerade ins verdiente Rentnerdasein verabschiedet, erneut einmischen. Zunächst tut er das, indem er seine nicht alltäglichen Erlebnisse aufschreibt, die dazu geführt haben, daß er nicht ganz freiwillig aus dem Schuldienst ausschied. Aber schon der Buchtitel verrät, daß Wanzka lediglich pausieren wird; es heißt Pause für Wanzka, nicht Endstation.

Gustav Wanzka, 1900 geboren, ist bereits in der Weimarer Republik Lehrer für Mathematik, nach 1933 weigert er sich, dem NS-Lehrerbund beizutreten, wird daraufhin entlassen und als Streckenarbeiter bei der Eisenbahn eingestellt. Er zieht mit seiner Frau zurück ans Haff, in das alte Fischerhaus, dem er entstammt, zweifelt aber, ob seine Entscheidung richtig war: „Was wird jetzt aus deiner Klasse, dachte ich, aus deiner sechsten Klasse? Und ich war mir gar nicht sicher, ob ich nicht äußerlich hätte jenem Bund beitreten sollen.“ So fühlt er sich nicht ganz schuldlos, als sich sein bester Mathematikschüler, der ihm und seiner Frau fast wie ein Sohn ist, allmählich seinem Einfluß entzieht, sich freiwillig zur Wehrmacht meldet und im Zweiten Weltkrieg fällt.

Nach Kriegsende, er ist unterdessen Witwer, absolviert Wanzka einen Neulehrerkursus, obwohl er eigentlich zu alt dafür ist, wird danach wieder Lehrer, wobei ihm der sowjetische Schuloffizier zu der Anstellung verhilft. Dieser schlägt ihn wenig später als Kreisschulrat vor. Wanzka wäre lieber Lehrer geblieben, wahrt aber Disziplin und arbeitet dort, wo er gebraucht wird, zumal er 1946 in die „Partei von Kommunisten“ eingetreten ist.

Fünfzehn Jahre lang erfüllt er als Kreisschulrat gewissenhaft seine Aufgaben, empfängt von den Schulen Berichte, schreibt selber welche und führt Kampagnen durch, kennt - genauestens, wie er glaubt - alle Schulen, ihre Leiter und Lehrer und deren Probleme in seinem mecklenburgischen Kreis. Da wird er - mit 61 Jahren - bei der Abteilung Volksbildung im Bezirk vorstellig und bittet darum, ihn wieder an einer Schule unterrichten zu lassen. Er möchte weg vom Schreibtisch, noch einmal direkt mit Schulkindern zu tun haben, vielleicht erneut einen genialen Mathematiker entdecken. Sein Wunsch löst in der Abteilung Volksbildung Befremden aus, auch liegt die Vermutung nahe, er wolle nun endlich Bezirksschulrat werden. Doch schließlich setzt er sich durch und wird zur musterhaften Schule in Mirenberg geschickt, wo ein Mathematiklehrer fehlt. Lieber wäre ihm eine nicht ganz so mustergültige Schule gewesen, aber dann hätte er nicht den elfjährigen Schüler Norbert Kniep kennengelernt, der der „Konsequent“ genannt wird, weil er den Dingen konsequent auf den Grund geht. Der Konsequent ist mathematisch hochtalentiert, allerdings stammt er aus Domjüch-Mühle, wo erfahrungsgemäß die schwierigen, aufsässigen Schüler herkommen, die dem auf strenge Disziplin bedachten Lehrerkollegium wenig Freude bereiten.

Und der Kollege Gustav Wanzka, ehemals Kreisschulrat, scheint in seiner Klasse, zu der auch der Konsequent gehört, gewisse Disziplinlosigkeiten auch noch zu befördern. Er schert die Schüler nicht über einen Kamm und hat höchst eigensinnige Ansichten über Erziehungs- und Bildungsziele. Er bringt viel Verständnis für die Schüler auf, weiß um deren Sorgen und Nöte und hält nichts von gleichmacherischen Erziehungsmaßnahmen. Das führt letztlich dazu, daß die anderen Lehrer Disziplinschwierigkeiten in seiner Klasse bekommen, während im Matheunterricht eifrig mitgearbeitet wird.

Zum Ärger der Schulleitung wirkt Wanzka wie ein Katalysator, und es kommt zu Spannungen im ach so bewährten Erzieherkollegium, das bisher jeder Richtlinie im Schulwesen mit Bravour folgte, immer rechtzeitig - je nach höherem Wunsch - ein Physik-, Chemie-, Mathe- oder Geschichtskabinett vorzuweisen hatte und auch in der Freizeit im Anglerverein kollektive Freuden genoß. Sogar eine Verlobung geht in die Brüche, weil die Verlobte sich plötzlich mehr zu Wanzka hingezogen fühlt als zum bewährten Sportlehrer Seiler, ihrem Verlobten, der die Schüler wie „Zöglinge“ ausrichtet.

Wanzka wird als Klassenleiter abgelöst, und der zackige Seiler übernimmt die Klasse, worauf Individualisten unter den Schülern nichts mehr zu lachen haben. Mit Erschrecken begreift Wanzka, daß die vorbildliche Schule Mirenberg jegliche - mitunter auch durchaus belebende- Konflikte schon im Ansatz unterdrückt und dadurch die Schüler letztlich zum Mittelmaß erzieht. Und er muß an die Anforderungen denken, die er als Kreisschulrat jahrelang stellte, die zur Nivellierung führten und in mehr oder weniger sinnvollen Kampagnen gipfelten.

Vor Resignation nach seiner Absetzung als Klassenleiter wird Lehrer Wanzka von dem Schüler Norbert Kniep bewahrt, dem er fast täglich zusätzliche Mathematikaufgaben stellt und der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, allerdings nur in Mathematik und Physik; in anderen Fächern gibt es immer wieder Schwierigkeiten, und die Disziplin läßt zu wünschen übrig.

So kommt es, wie es kommen muß: Dem Konsequent fehlt in der achten Klasse im Zensurendurchschnitt 0,3 an der geforderten Note für die Aufnahme an der Oberschule. Die Kollegen, die die nichtangeordnete mathematische Sonderaktion ohnehin mit Argwohn verfolgt haben, lassen trotz Wanzkas Protest keine Ausnahme zu und fühlen sich dabei im Recht, denn ihre Entscheidung war ja exakt; der erforderliche Durchschnitt wurde nicht erreicht. Außerdem kann Norbert Kniep eine Schuhmacherlehre beginnen, beim kauzigen Meister Jeromie in Domjüch-Mühle, der auf seine Art auch ein Genie ist und den eine Freundschaft mit Konsequent verbindet.

Eigentlich könnte das Buch hier nun enden; Schuster werden gebraucht, Mathematiker wohl eher weniger. Und tatsächlich wurden ja zahlreiche Karrieren aufstrebender unbequemer Individualisten auf solche oder ähnliche Weise ganz korrekt beendet. Die Betroffenen erhielten jeder eine Lehrstelle (das waren noch Zeiten!) und reihten sich zumeist brav ein in die sozialistische Menschengemeinschaft mit Traum von Neubauwohnung, Trabi und Datsche.

Aber Gustav Wanzka ist nun aufgestört und glaubt nicht mehr an die Unfehlbarkeit eines Schulsystems, das Talente verkümmern läßt. Auf Umwegen bringt er den Konsequent zum Sommerlager junger Mathematiker in Berlin, wo dieser bei der Abschlußolympiade einen zweiten Preis erzielt. Und wie ein Deus ex machina erscheint Professor Rebrek, Dekan der Mathematischen Fakultät, und ermöglicht Norbert die Aufnahme an der Heinrich-Hertz-Oberschule ...

Sicher, so etwas hat es gegeben, doch es bedurfte schon eines Lehrers wie Gustav Wanzka, damit ein ziemlich aufsässiger, nicht in allen Fächern leistungsstarker Schüler wie der Konsequent aus Domjüch-Mühle Mathematiker und nicht Schuster wurde, womit nichts gegen Schuhmacher gesagt werden soll.

Wanzka ist nun wieder voller Elan. Als er erfährt, daß Kreisschulrat Briesenbach, sein Nachfolger, dringend von dieser Funktion entbunden werden möchte, weil dieser sich um seinen behinderten Sohn kümmern muß, macht er sich erneut auf den Weg zur Abteilung Volksbildung beim Bezirk; die Pause seit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben hat ihm nun schon allzulange gedauert, und Descansar kann weiter warten.

Hiermit endet die Handlung - und es bleibt durchaus ungewiß, ob Gustav Wanzka mit seinen alten und neuen pädagogischen Erfahrungen zum zweitenmal Kreisschulrat geworden ist. 1963 wurde Margot Honecker Ministerin für Volksbildung, und sie vertrat jene Kräfte, von denen es im Roman heißt, sie seien der Meinung: „Der Mensch müsse erst bezwungen werden, ... auf daß er für den Sozialismus paßt ...“ Die Erziehung zur „Kampfreserve der Partei“, die später im Wehrkundeunterricht gipfelte, ließ kaum Platz für Individualisten.

Dennoch hat man beim Wiederlesen nicht den Eindruck, daß Wellms Pause für Wanzka ein Buch gegen das DDR-Schulsystem ist, das durchaus seine Verdienste hatte, wenn man z. B. an die Schülerolympiaden, aber auch an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät denkt. „Es ist der beste Stoff, den wir in unseren Schulen lehren, ... und ein jedes hat nun seinen Sinn und seine Ordnung ...“ Aber solche Ordnung neigt natürlich auch zu Verkrustungen, und es braucht in jedem Schulwesen Lehrer wie Gustav Wanzka, die diese aufbrechen, Schule nicht zum Selbstzweck werden lassen und die Schüler fürs Leben ausbilden. Solche Erziehung ist schwer genug, und wenn wir heute über die Gewalt unter den Schülern, über an sich sinnlose, systementlarvende und diskriminierende Kleidungszwänge der Kinder, über Perspektivlosigkeit der jungen Generation - und somit über Schulreformen - nachdenken, sollten wir ruhig mal wieder Alfred Wellms unterhaltsames und gehaltvolles Buch zur Hand nehmen und seinen belletristischen Beitrag zum heiklen und immer aktuellen Thema Erziehung und Bildung nicht unbeachtet lassen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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