Eine Literaturstätte, vorgestellt von Gudrun Schmidt

Verführung zum Schmökern

„Juliettes Literatursalon“ in der Gormannstraße oder wo Heine Doktor Faust zum Tanzen bringt

Nach gediegener, stilvoller Salonkultur riecht die Gegend nicht. Eher könnte Franz Biberkopf aus der Mulack- oder Steinstraße um die Ecke biegen. Hier, im „Hinterhof“ des Alexanderplatzes, in der Gormannstraße, hat „Juliettes Literatursalon“ Quartier genommen. Auch Franz Biberkopf wäre willkommen. Nur müßte er sich zu den abendlichen Veranstaltungen beizeiten aufmachen. Als Mitte Januar Slavoj Zizek, der in Ljubljana geborene Philosoph und Psychoanalytiker, sein neues Buch Die Pest der Phantasmen vorstellte, reichten nicht einmal die Stehplätze. Schon von weitem deuteten Trauben parkender Fahrräder auf Andrang. Die Salon-Generation anno '98 fuhr mit dem Rade vor. Wem es nicht mehr gelang, seinen Fuß in den Salon zu setzen, kann sich Zizeks anregenden Diskurs über Cyberspace per Internet nach Hause holen.

Doch vor allem legt „Juliette“ Wert auf persönliche Kontakte. Auf gut hundert Quadratmetern Bücherwände bis hoch an die Decke. Die Atmosphäre erinnert eher ans heimische Wohnzimmer als an Kommerz. Offene Regale, keine handelsübliche Folienhaut über den Büchern wahrt Distanz. Altertumswissenschaft, Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaft, Semesterliteratur, Publikationen von Kleinverlagen bilden den Schwerpunkt. Wer sucht, der findet schnell. Von A bis Z. Verführung aber auch zum Schmökern, Festlesen. Wer etwas Muße mitbringt, läßt sich vielleicht auf dem Biedermeier-Sofa nieder und vertieft sich bei einem Kaffee in die Lektüre. Nur, hier kredenzt ihn nicht die Dame des Hauses.

Ein Mann führt „Juliettes Literatursalon“. Im März vergangenen Jahres eröffnete Hartmut Fischer in dem denkmalgeschützten, restaurierten Haus Nummer 25 in der Gormannstraße seinen Salon mit dazugehöriger Galerie. Nein, ein Quereinsteiger sei er nicht, aber ein junger Existenzgründer schon. In Tübingen hat er seinen Beruf gelernt, in einer Buchhandlung, die u. a. Ernst Bloch, Walter Jens, Hans Mayer zu ihren Kunden zählte. Aber irgendwie zog es den jungen Mann nach Berlin. Mag sein, daß väterliches Erbe durchschlug, der an der Spree geboren war. Und die Mitte der Stadt sollte es unbedingt sein, „da bewegt sich am meisten, ist so vieles in Veränderung“. Wohl gefühlt habe er sich, sagt er heute nach vier Berlin-Jahren, von Anfang an.

Mit von Tübingen in die Hauptstadt brachte Hartmut Fischer „Juliettes Literatursalon“. So hieß eine Veranstaltungsreihe, die er im dortigen Club Voltaire begründet hatte. Das Konzept: Außenseiter vorstellen, Lesungen und Gespräche mit Autoren, Verlegern und Übersetzern, namhafte fanden ebenso ihr Podium wie unbekannte. Dieses Programm scheint auch im vielfarbigen Berliner Kulturleben aufzugehen. Zu 16 literarischen Abenden und fünf Ausstellungen lud „Juliette“ bisher ein. Ohne Engagement und Idealismus ist das nicht zu machen. Rüdiger Safranski stellte sein Buch Das Böse vor, Dagmar Fedderke las aus Notre Dame von hinten, Blixa Bargeld von der Gruppe „Einstürzende Neubauten“ wartete in einer originellen Schau mit fotografischen Impressionen von Hotel-Badezimmern auf, die er während seiner Tourneen in aller Welt in Augenschein nahm. Ob neue Bücher über Jugendkultur, moderne Kunst, Liebe oder Philosophie - Langeweile kommt im Salon nicht auf. Hartmut Fischer sieht in solchen Veranstaltungen auch eine Chance für kleine Buchhandlungen, Aufmerksamkeit zu finden und sich in der Konkurrenz der großen Buchhandlungen und -ketten zu behaupten.

Nach und nach bildet sich in „Juliettes Literatursalon“ ein Stammpublikum. Alteingessesene aus dem Kiez, die froh über den Neuzugang sind, Studenten, Professoren der nahen Humboldt-Universität, Arbeitslose, Baulöwen, die die historische Gegend rund um das alte Scheunenviertel als zukunftsträchtigen Standort entdeckt haben. Noch bestimmen riesige Kräne, Absperrungen das Bild. Aber in den alten, engen Straßen sind die Veränderungen nicht zu übersehen. Szenekneipen und Galerien, Designershops und alternative Naturkostläden - fast jeden Tag kommt Neues hinzu. Der Salon ist auf Gäste eingestellt. Im Sommer sei hier eine Flaniermeile, so Peter Sühring, der die Wissenschaftsabteilung betreut. „Wenn man an lauen Abenden bei offenen Türen sitzen kann und die Leute die Buchhandlung zum Wohnzimmer erklären wollen, machen wir mit. Geöffnet ist dann bis 22 Uhr.“ Er und Hartmut Fischer kennen sich von gemeinsamer Arbeit in Tübingen. Insgeheim zog es den geborenen Berliner schon lange zurück in die Hauptstadt. Der experimentelle Charakter, das anspruchsvolle Sortiment, die Möglichkeit, eigene Ideen zu verwirklichen, reizten ihn.

Zur Salonkultur gehört bei „Juliette“ auch, Verbindungen zu anderen Kunstgenres zu pflegen. Eine Kostbarkeit im kleinen, anschließenden Galerieraum wurde die Fotoschau „Heine bringt Doktor Faust zum Tanzen!“ Gezeigt wurden bisher unveröffentlichte Aufnahmen der deutschen Erstaufführung des Balletts „Abraxas“ 1948 in München. Diese Aufführung nach dem Libretto von Heinrich Heine und der Musik von Werner Egk wurde seinerzeit nach fünf Aufführungen verboten. Heines Regieanweisungen, wonach sich die leicht bekleideten Tänzerinnen in wüsten Verzückungen ihren Leidenschaften hinzugeben hatten, wurden wohl allzu genau befolgt. Der Filmhistoriker Thomas Poeschel hat die in Vergessenheit geratenen Aufnahmen des Berliner Theaterfotografen Werner Borchmann ausfindig gemacht und zu dieser schönen Schau zusammengestellt. Theater ist auch die andere Leidenschaft von Hartmut Fischer. Vor sechs Jahren gründete er mit polnischen Musikern und einem Hamburger Freund die freie Gruppe „Kettenseele“. Ihre Texte und die Musik zum Thema „Mensch und Maschine“ schreiben sie selbst. Die Aufführungen, für die allerdings ein Salon zu klein ist, sind eine Mischung aus Lesung, Theater und Konzert. Für den Herbst bereitet er die Herausgabe eines Buches über Theater vor, das im Konkursbuchverlag Claudia Gehrke erscheinen wird.

Solche Experimentierfreude, Regsamkeit wäre Juliette, der Namenspatronin des Salons, sicher recht. Hartmut Fischer geht zum Bücherregal und zeigt auf de Sades Justine und Juliette. Tugendhaft die eine, aufklärerisch, emanzipiert die andere. Klar, wem da seine Sympathie gebührt. De Sades Buch steht in der Bücherwand unter einer dezent beleuchteten Guillotine. Eigentlich kein typisches Salon-Interieur. Aber es gehört in die Zeit Juliettes. Ein Menetekel, „daß jede Entwicklung umkippen, zweifelhaft werden kann. Interessant“, so Hartmut Fischer, „sind vor allem die Folgen.“

Vielleicht können Bücher doch einiges bewirken.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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