Eine Literaturstätte, vorgestellt von Reinie Butge

Stippvisite(n) im Literaturort Berlin

Der Berliner Kulturkalender bietet sommers wie winters zahlreiche Gelegenheiten zur Unterhaltung und Bildung. Uns interessierte natürlich besonders das Angebot auf literarischem Gebiet. Der Literaturfreund, sei er nun Berliner oder Gast, kann, wie ein Blick in einschlägige Programmhefte oder die entsprechenden Rubriken der Tageszeitungen beweist, jeden Tag unter mehreren Veranstaltungen seine Wahl treffen.

Wir machten uns in den letzten beiden Januarwochen auf, einige dieser Angebote zu erkunden. Die Ergebnisse bilden bunte Mosaiksteine im Kulturpanorama der Hauptstadt, auch wenn die Ansprüche und Darbietungen von sehr unterschiedlichem Niveau waren. Die Veranstaltungsorte sind zahlreich und vielseitig. Sie reichen von Buchhandlungen über Lesecafés, Theater, Bibliotheken, Literaturhäuser bis hin zu literaturfremden Einrichtungen wie dem Botanischen Garten. Planerische Vorsicht ist jedoch angeraten, wie die abgesagte Lesung von Reinhard Jirgl aus dessen neuem Roman Hundsnächte im Georg-Büchner-Buchladen, der horrende Eintrittspreis von etwa 30 DM für die im Botanischen Garten veranstalteten „Winternächte im Tropenhaus: Von der Magie der Pflanzen - Lesung, Führung und akustische Simulationen“ oder auch die irreführend als „Villa Aurora - Exildomizil von Marta und Lion Feuchtwanger“ angekündigte Veranstaltung im Literaturhaus Berlin (über die noch zu berichten sein wird) nahelegen. Übrigens war für die von uns besuchten Veranstaltungen, mit einer Ausnahme, der Eintritt frei.

Am 16. Januar luden der Aufbau-Verlag und das Literaturforum im Brecht-Haus seltsamerweise zur Buchpremiere von Sabine Kebir: Ein akzeptabler Mann. Brecht und die Frauen. Schließlich ist dieses Buch schon vor Jahren erschienen und liegt heute in erweiterter und überarbeiteter Fassung vor. Aus Anlaß des Brecht-Jubiläums jedoch schrieb die Autorin mit Gina Pietsch und Dieter Dehm das „musikalisch-satirische Tribunal“ Deutschland gegen Bertolt Brecht - im Namen der Frau, ein eigenständiges Programm, mit dem sie auch auf Tournee geht. Leider war der kleine Saal des Brecht-Hauses bei unserem Eintreffen bereits überfüllt, obwohl für normale Literaturabende zwanzig Minuten vor dem Beginn noch als weit verfrühtes Erscheinen zu werten sind. Daher bleibt uns nur die Vermutung, eine vergnügliche, aus dem Rahmen fallende Brecht-Würdigung verpaßt zu haben.

Zwei Tage später gelang es uns jedoch trickreich, für die traditionsreiche sonntägliche Literatur-Matinee in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Karten (Preis 10 DM) zu bekommen. Die Lesung aus Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895-1900 zählt mit Sicherheit zu den Kabinettstücken des literarischen Vortrags. Nicht nur, weil das Buch selbst eine kleine Sensation speziell auf dem Berliner Buchmarkt darstellt, vor allem der zahlreichen Parallelen zur Gegenwart wegen, sondern auch wegen des gewohnt brillanten Vortrags durch Dieter Mann, umrahmt von zeitgenössischer Musik in der schönen Atmosphäre der (vollbesetzten) Kammerspiele. Günther Rühlke, der Entdecker und Herausgeber der bei Aufbau erschienenen Briefe, sprach die einführenden Worte über die aufregende Geschichte ihrer Wiederentdeckung.

Diese Kultur-Briefe, die der junge Alfred Kerr im angegebenen Zeitraum aus Berlin für die „Breslauer Zeitung“ schrieb, malen ein lebendiges Bild einer aufstrebenden Metropole, einer Stadt im Umbruch, genau wie es Berlin heute ist. Das 19. Jahrhundert geht seinem Ende entgegen. Niemand kann sich so recht vorstellen, was das neue Jahrhundert bringen wird. Die Einigung des Deutschen Reiches ist noch frisch im Gedächtnis mit all ihren Widersprüchen. Daher sei jedem Berlin- und/oder Kerr-Freund dieses unterhaltsame Zeitdokument empfohlen.

Ein völlig anders geartetes, berührendes Erlebnis bot die in den Räumen des Jüdischen Kulturvereins in Mitte in Zusammenarbeit mit dem Anne-Frank-Zentrum Berlin durchgeführte Veranstaltung mit Hannah Pick - „Meine Freundin Anne Frank“. Frau Pick, mit Anne gleichaltrig, hatte diese wenige Tage nach ihrer eigenen Übersiedlung nach Amsterdam kennengelernt. Sie berichtete den gut 30 Zuhörern vor dem Hintergrund der gerade erschienenen neuen, kritischen Ausgabe des Tagebuchs der Anne Frank über ihr Schicksal und ihre Berührungspunkte mit Annes Leben und dem der Familie Frank. Die seit Kriegsende in Israel lebende Hannah Pick, die auch im Tagebuch erwähnt wird, zählt zu jenen Menschen, für die das Überleben des Holocaust ein großes Wunder und eine große Gnade, aber auch Verantwortung bedeutet. So ist sie in der Lage, ihre sehr enge Beziehung mit Anne und die unglaublichen Zufälle, die ihr selbst das Leben retteten und nach jahrelanger Trennung noch zu einem Zusammentreffen mit Anne im Lager Bergen-Belsen führten, berührend, aber ohne Pathos und voller Lebendigkeit zu schildern. Seit Jahren reist sie um die Welt, um vor einer Wiederholung des Unbeschreibbaren zu warnen. In diesem Jahr zum erstenmal in Deutschland, hatte sie auch zahlreiche Einladungen in Schulen erhalten. Nicht nur für Kinder und Jugendliche ist diese Anschaulichkeit der Schilderung jüdischen Lebens, aber auch der zunehmenden Einschränkung, Entwürdigung und Drangsalierung bis zum Lageraufenthalt sicherlich eine Bereicherung bei der Lektüre des Tagebuchs.

Einen Tag nach dieser bewegenden Veranstaltung hatten diesmal wieder die Brecht-Liebhaber Gelegenheit, am Abend des 21. Januar im Atrium des Willy-Brandt-Hauses in der Stresemannstraße den Dramatiker von einer Seite kennenzulernen, die nicht oft Gegenstand von Veröffentlichungen ist. Im Rahmen der Ehrungen anläßlich des 100. Geburtstages des Dichters wurde die Fotoausstellung „Bertolt Brecht beim Photographen“ eröffnet und das gleichnamige Buch vom Herausgeber, Michael Koetzle, vorgestellt.

Die 32 Fotos, die Inhalt des Buches sind, wurden zu beiden Seiten des Atriums durch effektvolle Beleuchtung wirkungsvoll plaziert. Dezent eingespielte Brecht/Weill-Songs unterstrichen die Wirkung. An einem Informationsstand konnte man sich über gegenwärtig im Angebot befindliche Bücher informieren und auch einige Titel käuflich erwerben.

Die Veranstaltung war mit über 100 Gästen gut besucht. Es handelte sich, wie bei Brecht nicht anders zu erwarten, um vorrangig intellektuelles Publikum mittleren Alters. Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Frau Wettich-Danielmeyer, Schatzmeisterin der SPD aus Göttingen. Sie sprach u. a. zum Verhältnis Brechts zur SPD (das es de facto nicht gab). Der Herausgeber des Buches Bertolt Brecht beim Photographen berichtete über seine Recherchen zur Entstehung und Wiederentdeckung der Bilderserie. Er würdigte Leben und Wirken des Augsburger Hofphotographen Konrad Reßler und dessen Verhältnis zur Brecht-Familie in der Augsburger Zeit. Er beschrieb Lebensstationen Brechts (Augsburg, München und Berlin) und dessen Verhältnis zur Photographie grundsätzlich und zum Photographen Reßler speziell. Unterlegt wurden die Ausführungen Michael Koetzles mit Rezitationen des Schauspielers Wolfram Pfäffle aus Brechts Werk.

Sicher nicht nur für Brecht-Interessierte war dies eine informative und damit gelungene Veranstaltung. Die Ausstellung selbst ist bis 22. Februar 1998 montags bis freitags von 10-20Uhr, sonntags von 11-18 Uhr geöffnet.

Das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße ist seit über zehn Jahren eine zuverlässige Adresse für interessante literarische Veranstaltungen und hin und wieder, wie es scheint, auch für eine Überraschung gut. „Villa Aurora - Exildomizil von Marta und Lion Feuchtwanger“ - so war, wie eingangs erwähnt, für den 29. Januar, 20 Uhr, eine Veranstaltung des Literaturhauses in der Presse angezeigt. Da lag es eher nah als fern, eine Lesung oder einen Vortrag über das Leben und Wirken der Feuchtwangers während der Zeit ihres Exils in Los Angeles zu erwarten, wo sie ein sehr schönes Haus, die Villa Aurora, in Pacific Palisades bewohnten und sich mit vielen deutschen Emigranten und ihren amerikanischen Freunden trafen. Nicht nur Brecht, mit dem Feuchtwanger dort intensiv zusammengearbeitet hat, auch Thomas und Heinrich Mann, Franz Werfel, Alfred Döblin, Ludwig Marcuse, Albert Einstein, Kurt Weill, Fritz Lang, Charlie Chaplin, um nur einige zu nennen, gehörten zu den von ihnen oft empfangenen Gästen. Über das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten hofften wir u. a., mehr zu erfahren.

Ein Blick in das vor Ort ausliegende Programm-Faltblatt machte uns klar, daß sich hinter dem Titel dieser Veranstaltung doch ein etwas anderes Anliegen verbarg - das für kurzentschlossene Literaturfreunde aus der Presse eben nicht zu erfahren war: Hier ging es darum, den ehemaligen Wohnsitz der Feuchtwangers als kulturellen Treffpunkt und Aufenthaltsort für deutsche und europäische Stipendiaten aus allen Bereichen der Künste, als eine Art „Villa Massimo am Pazifik“, bekannt zu machen. Nachdem der Chef des Literaturhauses den etwa 50 Gästen (denen nicht nur unbequeme Stühle, sondern auch eine fürchterliche Akustik zugemutet wurden) Freimut Duve, den Vorsitzenden vom „Kreis der Freunde und Förderer der Villa Aurora e. V.“, vorgestellt hatte (wohl in Erwartung, daß der sogleich zu einem Klagelied über die finanzielle Notlage der vom Senat geförderten Villa Aurora anheben würde, fast ein wenig verstimmt, wie es schien, wo sein Haus doch auch ziemlich notleidend sei), informierte Duve über die Ziele der Villa Aurora, das Programm, ihre Finanzierungsprobleme und über die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bewerbung um ein Stipendium. Schließlich stellte er vier Stipendiaten vor, Manfred Flügge, Irina Liebmann, Zafer Senocak und Said, die nun Texte zu Gehör brachten, die durch den Aufenthalt in der Villa Aurora angeregt wurden. Das Ergebnis war verblüffend, jedenfalls das von drei der vier Autoren. Während Flügge eine offenbar mit leichter Hand geschriebene recht amüsante und zudem informative Geschichte über eine Autofahrt durch L. A. vortrug, waren die Texte der anderen (Lyrik und Prosa-Miniaturen) eher geeignet, beim Zuhörer Depressionen auszulösen. Die Leichtigkeit ihres Seins in Pacific Palisades oder nur deren schöner Schein muß ihr Unbehagen an der Welt, in die sie nun wieder zurückgekehrt waren, potenziert haben. Man hätte ihnen diese Erfahrung vielleicht ersparen sollen.

Zum Abschluß soll an dieser Stelle über ein weiteres, unterhaltsameres literarisches Ereignis berichtet werden: Aus Anlaß des 250. Geburtstages von Gottfried August Bürger - er wurde am 31. Dezember 1747 in Molmerswende/Harz geboren - zeigt die Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz die Ausstellung „Münchhausen - Vom Jägerlatein zum Weltbestseller“ in zwei Teilen, und zwar im Haus I (Unter den Linden 8) „Das letzte deutsche Volksbuch - Vom Werden der Burleske“ und im Haus II (Potsdamer Straße 33) „Bücher und Bilder - 200 Jahre Münchhausenillustrationen“.

Wußten Sie, daß Münchhausen keine Erfindung eines Gottfried August Bürger (1747-1794) war, sondern wirklich lebte? Das historische Vorbild des „Lügenbarons“ ist Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720-1797), der an zwei Türkenkriegen teilgenommen und in russischen Diensten gestanden hatte (die Ernennungsurkunde in Russisch und in deutscher Übersetzung ist in einer Vitrine zu sehen). Auf seinem Gut Bodenwerder in Westfalen (heute ist das ehemalige Gutshaus Münchhausen-Museum und gleichzeitig Rathaus der Stadt) erzählte er im Kreise seiner Freunde Geschichten von seinen Erlebnissen und übertrieb dabei maßlos. Im Vademecum für lustige Leute (1781) veröffentlichte ein anonymer Erzähler 17 solcher „Schnurren“ und legte sie einem „Herren von M-h-s-n“ in den Mund. 1785 wurden diese von Rudolf Erich Raspe (1737-1794) ins Englische übersetzt und erlebten kurz hintereinander vier Auflagen. Die dritte englische Auflage gelangte in Bürgers Hände, der sie ins Deutsche übertrug, bearbeitete und neue „Erlebnisse“ hinzufügte, so daß etwas völlig Neues, Eigenständiges entstand. Sein 1786 in Göttingen - der Verlagsort London auf dem Titel ist eine Lüge! - herausgegebenes Buch Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen wurde zu einem wahren Bestseller, zu einem Volksbuch für jung und alt und trat seinen Siegeszug um die Welt an. Die informative Ausstellung in beiden Häusern der Staatsbibliothek zeigt eine Fülle von Münchhausen-Büchern (von den Erstdrucken bis in unsere Zeit, meist illustriert, in vielen Sprachen), Quartett-Spiele und alles von und über Münchhausen, der überdimensional auf einer Kanonenkugel über den Besuchern schwebt ...

Die Ausstellung ist noch bis 14. März 1998, von Montag-Freitag von 9-21 und Sonnabend von 9-17 Uhr zu besichtigen; der Eintritt ist frei.

Alles in allem fanden wir unsere Stippvisiten durch das Berliner Kulturleben anregend. Diese wenigen Facetten aus dem Prisma der reichhaltigen Literaturszene der Stadt mögen ausreichen, dem Leser Anlaß zu eigenen Erkundungen zu geben.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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