Eine Literaturstätte, vorgestellt von Klaus Ziermann

Neue Promenade Nr. 5: Rowohlt. Berlin Verlag

Rowohlt. Berlin gehört erst seit acht Jahren zur hauptstädtischen Verlagslandschaft. Er ist - genaugenommen - ein Kind der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa: „Die Ereignisse des Herbstes 1989 hatten in Europa - mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer - eine neue politische und kulturelle Landkarte entstehen lassen. Um es salopp auszudrücken: Die politischen und ästhetischen ,Karten‘ wurden neu gemischt - nichts war mehr so wie vordem. Wir glaubten (und glauben), diesen Prozeß verlegerisch, editorisch begleiten zu müssen. Deshalb ist der Schwerpunkt unseres literarischen Programms Autoren aus Osteuropa gewidmet, deren Stimmen wir hier hörbar, deren Werke wir hier lesbar machen wollen“, schildert Verlagsleiterin Ingke Brodersen den „Gründungsimpuls“ von Rowohlt Berlin.

Mit Rowohltschem Spürsinn für zeitgeschichtliche Bücher entstanden die ersten größeren Verkaufserfolge des Verlags: Handeln für Deutschlands von Helmut Schmidt, Wie ein Vogel im Aquarium von Daniel Goeudevert und Tatort Politbüro von Peter Przybylski im Sachbuch, Paarungen von Peter Schneider und Roman eines Schicksallosen von Imre Kertézs in der Belletristik. Das 1993 aus der siebenteiligen ARD-Fernsehserie hervorgegangene, von Wolfgang Kenntemich, Manfred Durniok und Thomas Karlauf herausgegebene Rowohlt Berlin-Buch Das war die DDR. Eine Geschichte des anderen Deutschland avancierte sogar zum Sonderdruck für die Landeszentralen für politische Bildung und erreichte die stattliche Auflage von rund 40 000 Exemplaren.
Inzwischen hat der Verlag sich weiter gemausert. Er ist aus dem Gewerbehof am Einsteinufer 63 a zur pulsierenden, von Baugerüsten und Baugeschehen umringten Neuen Promenade Nr. 5 am Hackeschen Markt umgezogen - einer literaturgeschichtsträchtigen Urberliner Gegend nicht weit vom Alexanderplatz, in der einst die „deutsche Sappho“ Anna Louisa Karsch zu Zeiten Friedrichs des Großen ihre „Auserlesenen Gedichte“ schrieb und später Alfred Döblins legendärer Romanheld Franz Biberkopf zu Hause war.

Seit seiner Gründung hat der Rowohlt. Berlin Verlag bislang insgesamt 150 Titel auf den Markt gebracht, 50 belletristische und 100 Sachbuchtitel. Zu seinen Hauptautoren zählen Imre Kertész, Péter Nádas, Tibor Fischer, Peter Schneider und Heidi Schüller. Spätestens seit dem Erfolg seiner Bücher Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (1992) und Roman eines Schicksallosen (1996) gilt der mit mehreren deutschen Literaturpreisen gekürte Ungar Imre Kertész als einer der großen europäischen Schriftsteller. Mit dem Roman Das Fiasko wird 1999 die deutsche Übersetzung der Kertész-„Trilogie der Schicksallosigkeit“ abgeschlossen. Außerdem bringt Rowohlt. Berlin 1998 ein weiteres neues Buch von Imre Kertész auf den Markt: den Roman Ich ein anderer - eine Chronik des Wandels über Befreiung und Aufbruch in Ungarn.

Von Tibor Fischer - einem der wichtigsten englischen Autoren der jüngeren Generation, der als freier Schriftsteller und Journalist in London lebt - kommt 1998 ein Roman über die endlose Schamlosigkeit des Seins heraus: Die Voyeurin. Nach den 1997 bei Rowohlt Berlin erschienenen ersten beiden Fischer-Romanen Stalin oder ich und Ich raube, also bin ich. Die Eddie Coffin Story aus dem Bankräuber-Milieu hat sich der Brite diesmal in das erotische Milieu begeben, denn erzählt und durchlitten wird das Buch von einer Vase: Sie ist Zeugin von Rosas Versuchen, den richtigen Liebhaber zu finden. Daniela Dahn hat sich mit ihrem Buch Westwärts und nicht vergessen hohe Lesergunst, besonders in den neuen Bundesländern, gesichert.
Die geistige Abrechnung mit „realsozialistischer Vergangenheit“ ist auch bei Rowohlt. Berlin nach wie vor groß geschrieben, sei es in dem lang erwarteten Buch Magdalena von Jürgen Fuchs - einem Roman über MfS, Memfisblues, Stasi, Die Firma, VEB Horch & Gauck, in dem weder Freunde noch Gegner geschont werden sollen -, in dem originellen Schmunzel-Bilderbuch aus dem Jenseits Unsere Deutsche Demokratische Republik mit Karikaturen von Barbara Henniger, in den von Véronique Garros, Natalija Korenewskaja und Thomas Lahusen besorgten Tagebüchern aus der Stalin-Zeit Das wahre Leben oder in der Dokumentation Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950.

Einen festen Platz in deutschen Buchhandlungen hat die 1996 begonnene „Reihe Paare“ inne. Die „Lebensläufe zu zweit“ von bekannten Liebes- und Ehepaaren, die mit Isodora Duncan und Sergej Jessenin von Carola Stern, Königin Luise und Friedrich Wilhelm III. von Dagmar von Gersdorff, Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner von Joachim Köhler begonnen wurden, haben sich inzwischen zu einer viel beachteten Reihe ausgeweitet. John F. und Jacquelin Kennedy von Alan Posener, John Lennon und Yoko Ono von James Woodell, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre von Walter van Rossum, Ludwig Wittgenstein und David Pinsent von Justus Noll und Rosa Luxemburg und Leo Jogiches von Maria Seidemann stehen als Neuerscheinungen 1998 im Programm.

Das Kinder-Thema, das insonderheit Heidi Schüller mit ihrem Buch Wir Zukunftsdiebe. Wie wir die Chancen unserer Kinder verspielen und Claudia Schmölders in Deutsche Kinder-Unordnung und frühes Leid. Lebensläufe von begabten und gefeierten, verlassenen und verstoßenen Kindern, erfolgreich aufgegriffen haben, will Rowohlt. Berlin mit einem ganzen Programm anspruchsvoller Sachbücher für die nächste Generation fortsetzen. Wissenschaft für Kinder soll dabeisein - etwa Physik oder Astronomie -, aber auch eine „historische Ecke“ mit fundierten, spannenden Sachbüchern über die Antike in Griechenland und Rom, das Mittelalter, bis hin zur Geschichte des Holocaust.
Und selbstverständlich darf bei diesem Verlag eines nicht vergessen werden: das „Kursbuch“, die von Hans Magnus Enzensberger in den Hochzeiten der Studentenunruhen 1968 gegründete, derzeit von Karl Markus Michel, Ingrid Karsunke und Tilman Spengler vierteljährlich herausgegebene exquisite Literaturzeitschrift - seit langem eine der besten ihrer Art. „Das liebe Geld“ stand in Heft 130 vom Dezember 1997 im Blickpunkt. Für die nächsten Nummern sind vorgesehen: „Neue Landschaften“ und „Unsere Mütter“.

Ein respektables Verlagsprogramm - in der Tat.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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