Eine Belletristik-Annotation von Bernd Heimberger

Makine, Andrei: Das französische Testament

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997, 317 S.

Literatur ist Götterspeise. Literaturkritik ist vereiste Götterspeise. Deutsche Literaturkritik ist tiefgefrorene Götterspeise. Also sollte sich die Literaturkritik, zumal die deutsche, von Andrei Makines Roman Das französische Testament fernhalten. Also sollte der Kritiker den Lesern nur das sagen: Lesend lernte ich das Buch lieben. Ich liebe das Buch, wie ich meinen Sohn liebe. Wie ich meine Großmutter liebe. Wie ich die Geschichten von Großmutter und Enkel liebe, die mir Makine erzählte. Sagte ich erzählte? Der Schriftsteller wird mir immer wieder Geschichten der Geschichte von Großmutter und Enkel erzählen, so wie wir uns alle immer wieder Geschichten unserer Familie erzählen. Geschichten voller Sehnen, Scherz, Scheu, Schrecken, Scham, Schmerz, Siegen. Geschichten, die nicht oft genug wiederholt werden können. Geschichten, „die das Leben schreibt“ und die Leben beschreiben, wie Leben nicht alle Tage ist, und doch mehr über alle Tage erzählen als alle Tagesgeschichten.

Andrei Makine ist der Autor, der einen sicheren Blick für Ausnahmesituationen hat, in denen alle Regeln gebündelt sind. Vor vier Jahrzehnten in Sibirien geboren, seit 1987 unter bedrängend dürftigen Verhältnissen in Frankreich zu Hause, berichtet der Erzähler in seiner Großmutter-Enkel-Geschichte von der Übermacht des Menschen, an der alle Mächtigen scheitern und die keine Grenzen kennt. Das französische Testament ist nicht die Geschichte der französischen, sowjetischen, europäischen Kindheit eines Jungen. Es ist die Geschichte der Kindheit an sich. Die ist französisch, sowjetisch, europäisch, weil sie von den französischen, sowjetischen, europäischen Geschichten der Großmutter berührt, begleitet, bewegt wird. Orte gehen in Orte, Generationen in Generationen über und auch in ihnen auf. Ist eigenes Leben nichts ohne anderes Leben? Jede Seite des Romans macht die Frage überflüssig. Jede Seite antwortet mit Geschichten, die eine einzigartige menschliche Kindheitsgeschichte ausbreiten, die französische, sowjetische, europäische Historie maßgeblich mitbestimmt.

„Er starb überraschend im Elysée-Palast in den Armen seiner Geliebten Marguerite Steinhoil ...“, erklärt die Großmutter an Hand eines Zeitungsfotos den Tod des vor Jahrzehnten verstorbenen französischen Präsidenten Félix Faure. Der Enkel stellt fest: „Dieser Satz läutet das Ende meiner Kindheit ein.“ Das ist die anschauliche, sinnliche, sinnreiche Art des Andrei Makine zu erzählen. Der Schriftsteller beherrscht die Kunst, wenig zu schreiben, um viel zu sagen. Das macht den Roman unvergeßlich. Das macht die Liebe zum Buch so selbstverständlich möglich. Die Liebe, die mit vielen geteilt werden will.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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