Eine Belletristik-Annotation von Hans-Rainer John

Köhler, Peter (Hrsg.): Das Anekdoten-Buch

Philipp Reclam jun., Stuttgart 1997, 280 S.

„Die Anekdote ist eine kurze, pointierte Erzählung von einem ungewöhnlichen Vorfall, der glaubhaft, aber nicht bewiesen ist“, definiert der Herausgeber das Corpus delicti im Nachwort. Sie endet meist unerwartet, nämlich mit einer zündenden Pointe, und ist entweder witzig oder geistreich. Anekdoten sind populär, weil sie leicht konsumierbar und amüsant sind und sich trefflich wiedergeben lassen. (Schon Goethe hielt dafür, eine Sammlung von Anekdoten sei für den Weltmann der größere Schatz, wenn er sie an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen wisse.) Was Wunder also, daß immer wieder Anekdoten-Sammlungen zusammengestellt und in Buchform veröffentlicht werden.

Die Besonderheit des vorliegenden Bandes liegt im Versuch, das Terrain umfassend abzustecken, also Kostproben aller Arten Anekdoten, die wir kennen, herauszusuchen und zusammenzustellen. Zwischen 4 und 61 Seiten lang sind die Abteilungen, die jeweils Schauspielern, Musikern, Malern und Bildhauern, Politikern, Juristen, Finanziers, Schriftstellern, Gelehrten, Theologen, Adligen, Militärs und Ärzten gewidmet sind. Und was sich nicht so leicht Berufen oder Ständen zuordnen ließ, wird in den Abteilungen „Antike Anekdoten“, „Typen-Anekdoten“ und „Sonstige Anekdoten“ (dort auch Sportler) geführt. Das ist die gute Nachricht, sie betrifft Vielfalt und Breite der Thematik.

Die weniger gute dagegen lautet: Es sind leider die besten nicht immer, die aus dem jeweiligen Fundus ausgewählt worden sind. Theateranekdoten beispielsweise gibt es bändeweise, sie wurden immer wieder publiziert. Den Mimen sind hier 24Seiten gewidmet, hätten sie nicht mit den treffsichersten gefüllt werden können? Leider ist das nicht der Fall. Der Rezensent hat keine Ahnung, was letzten Endes die Auswahl bestimmt hat: der Geschmack des Herausgebers, begrenzte und einseitige Quellenkenntnisse oder die in diesem Bereich überaus komplizierte urheberrechtliche Situation, die vielleicht verhindert hat, daß bestimmte Quellen angezapft werden konnten. Auf jeden Fall: Ein guter Teil der benutzten Anekdoten ist matt und fad und kaum fähig, den Leser aufmerken oder schmunzeln zu lassen oder gar, wie K. F. Bahrdt es fordert, „das Zwerchfell auf eine heilsame Art in Bewegung zu setzen“.

Die gute Anekdote beleuchtet in knapper, aber prägnanter Form menschliche Stärken und Schwächen oder gesellschaftliche Zustände; sie gibt Zeitkolorit, verlebendigt trockene Historie, dürre Biographie, wenn auch oft nur entzündet an einer ungewollt komischen Situation, einem Kuriosum, einer Schrulle. Vor allem aber: Sie lebt von der mit ihr zitierten historischen Persönlichkeit - dazu muß letztere freilich bekannt sein. In dem vorliegenden Band gibt es zwar ein Quellenverzeichnis, Literaturhinweise und ein Nachwort des Herausgebers, in dem er einiges zur Geschichte und Theorie der Anekdote zusammenfaßt, aber es gibt keinerlei Anmerkungen, und gerade diese wären bei der Fülle der mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten für den Leser sehr hilfreich.

Unbestritten natürlich, daß man auch auf gute und wirksame Anekdoten stößt, gar ein Juwel findet, sich hier an Altbekanntem erfreut und dort seinen Wissensschatz schmunzelnd aufbessert - im Ganzen aber läßt das Buch sich schwer ohne eine gewisse Enttäuschung aus der Hand legen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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