Eine Rezension von Herbert Schwenk

 

Zerfall eines Giganten

Jörg Stadelbauer: Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion
Großraum zwischen Dauer und Wandel.

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 660 S. Reihe „Wissenschaftliche Länderkunde“, Band 41

 

War die Existenz der Sowjetunion ein zentrales Ereignis für das 20. Jahrhundert, so hat ihr Zerfall nicht minder großen Einfluß auf das Weltgeschehen im Übergang ins 21. Jahrhundert. Fragen zur Vergangenheit der UdSSR sowie zur Gegenwart und Zukunft der fünfzehn Nachfolgestaaten (darunter zwölf nichtslawische) des einst flächengrößten Staates der Erde sind an der Tagesordnung, und der (Nachhol-)Bedarf an sachlich fundierten Informationen ist groß. Diesem Anliegen entspricht Jörg Stadelbauer (Jahrgang 1944; Professor für Kulturgeographie an der Universität Freiburg i. Br.) mit dem vorliegenden Werk aus der renommierten Reihe „Wissenschaftliche Länderkunden“ im Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt.

Autor und Herausgeber standen vor keiner leichten Aufgabe. Sie wurden im Prozeß ihrer Arbeit an dem Projekt von der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 „überrascht“ und mußten die beginnende politische Umbruchsituation mit allen ihren Unwägbarkeiten dem Buch zugrunde legen. Es galt, eine solche ganzheitliche länderkundliche Betrachtung von politischen und geographischen Faktoren vorzunehmen, die sich durchgängig auf den Großraum der ehemaligen Sowjetunion mit allen seinen prägenden geographischen Bedingungen bezieht und gleichzeitig die neuen Verhältnisse der Nachfolge-Einzelstaaten einschließt. Im Zentrum ihrer umfassenden länderkundlichen Betrachtung steht der Leitbegriff des geographischen Raumes. Nachdem der Autor in einem ausführlichen Prolegomenon seine konzeptionellen Überlegungen darlegt, gelingt es ihm sehr gut, in den folgenden, äußerst übersichtlich und informativ gestalteten sechs Kapiteln die für den Anspruch einer wissenschaftlichen Länderkunde relevanten Raumbeziehungen abzuhandeln: die räumlichen Bezüge zur Politik, zur Gesellschaft, zur Geschichte, zur Natur, zur Wirtschaft und schließlich auch zu den globalen Problemen unserer Zeit.

Auch wenn über einzelne Aspekte der Methodik gestritten werden kann (so zum Beispiel über den Umstand, daß das Kapitel „Raum und Natur“ erst nach den Kapiteln „Raum und Politik“, „Raum und Gesellschaft“ sowie „Raum und Geschichte“ abgehandelt wird), darf die länderkundliche Darstellung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion als lehrbuchartig und methodisch gelungen gelten. Das Buch beeindruckt durch seine problemorientierte Analyse ebenso wie durch seine lexikalische Präzision und Dichte der Informationen. Die wahre Flut von Daten und Fakten wird unterstützt durch 18 Tabellen, 81 geographisch-kartographische Abbildungen, fünf Farbkarten im Anhang sowie ein umfangreiches Register und ein mehr als 50seitiges Literaturverzeichnis. Nichts länderkundlich Relevantes wird ausgespart, was sich aus der historischen, physischen und ökonomischen Geographie herleitet, wie etwa: Territorium, Grenzen, Raumgliederung, Sozialstruktur, Wirtschaftssystem, Migration, Siedlungen, Bodenschätze, Wasserhaushalt, Landschaftszonen, Organisationsstruktur der GUS-Länder, Transformation zur Marktwirtschaft, Deutsche im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, Risiken und Naturkatastrophen, Umweltbelastungen und Umweltkatastrophen, militärisch-industrieller Komplex und Konversion sowie ethnoterritoriale Konflikte und regionale Unruhen. „Es reicht heute nicht mehr aus“, resümiert der Autor, „den Blick nur auf Rußland zu richten. Die Rußländische Föderation ist zwar der bei weitem dominierende Nachfolgestaat der Sowjetunion, doch sind in den anderen Nachfolgestaaten Emanzipationsprozesse im Gang, die zu verstärktem Selbstbewußtsein, eigenständiger Außenorientierung und unterschiedlichen Formen moderner Staatlichkeit führen können. Das Erbe einer desolaten Wirtschaft und einer hohen ökologischen Belastung aller Teilräume wird jedoch nicht rasch zu überwinden sein.“ (S. 591/592)


© Edition Luisenstadt, 1998
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