Eine Rezension von Herbert Mayer

 

Beiträge zur Widerstandsforschung

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg.): Anpassung Verweigerung Widerstand
Soziale Milieus, Politische Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im regionalen Vergleich.

Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (Reihe A: Analysen und Darstellungen), Berlin 1997, 308 S.

 

Der Band bildet das Ergebnis einer im Februar 1994 von der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte durchgeführten Arbeitstagung. Er setzt an einer bisher kaum beachteten Seite der Widerstandsforschung an: Zum einen werden Resultate der regionalen Widerstandsforschung miteinander verglichen, zum anderen werden sie mit den Konzepten der sozialen Milieus und der politischen Kultur verknüpft. Allerdings sind die Kategorien „soziales Milieu“ und „politische Kultur“ in ihrer inhaltlichen Bestimmung nicht eindeutig, die Unterscheidung bleibt in der Literatur verschwommen, und ihre Bewertung erfolgt kontrovers. Dieser Mangel ist den Autoren durchaus bewußt, um so wertvoller ist ihr Versuch, diesen neuen methodologischen Weg zu gehen.

Im Vorwort hält Peter Steinbach den Milieubegriff für die Widerstandsforschung für wichtig, „weil er zu erklären vermag, daß es in modernen Diktaturen nicht zu einer völligen weltanschaulichen Gleichschaltung sozialer, kultureller und politischer Gruppen kommt. Sie entfalten vielmehr auf eine häufig beeindruckende Weise die Kraft zur Dissidenz, zur Nonkonformität und zum abweichenden Verhalten.“ (S. 9) Prinzipielle Bedeutung besitzt der Beitrag von Detlef Schmiechen-Ackermann „Soziale Milieus, Politische Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus“, in dem er den bisherigen Forschungsstand bilanziert, Desiderate und offene Fragen benennt. Die beiden weiteren einführenden Beiträge tragen ebenfalls Überblickscharakter. Gerhard Paul (S. 30 ff.) analysiert in „Zwischen Traditionsbildung und Wissenschaft“ den gegenwärtigen Stand der lokal- und regionalgeschichtlichen Widerstandsforschung, ihre Etappen, Ergebnisse und Defizite. Franz Walter und Helge Matthiesen zeigen im Aufsatz „Milieus in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte“ Ergebnisse und Perspektiven dieses Forschungsfeldes.

Die weiteren Themenkomplexe des Bandes befassen sich mit „Rahmenbedingungen für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“ (Beiträge von I. Marßolek, W. Zollitsch und R. Gellately), mit „sozialen Milieus zwischen Anpassung und Verweigerung“ (D. Schmiechen-Ackermann, C. Rauh-Kühne, H. Otte und S. Rogge-Gau) sowie mit „politischen Orientierungsmustern, Handlungsspielräumen und regionalspezifischen Ausprägungen des Arbeiterwiderstandes“ (A. Wirsching, K.-M. Mallman, D. Lehnert, B. Herlemann, L. Eiber). Abschließend erfolgt ein Überblick über die freie, kontrovers geführte Diskus-sion auf der Tagung (T. Franz/J. Merk). Die Auswahlbibliographie im Anhang vermochte zumindest einen Teil der relevanten Literatur zu erfassen.

Während die angekündigte Einbindung des Begriffs „politische Kultur“ weitgehend vernachlässigt wird, ziehen sich zwei zentrale Linien durch die Darlegungen: zum einen die Anwendung der Kategorie Sozialmilieu auf den Widerstand einschließlich der Ursachen und des Verlaufs seines Auflösungsprozesses, zum zweiten der Arbeiterwiderstand. Fruchtbar für weitere wissenschaftliche Debatten erweist sich, daß durchaus kontroverse und differenzierte inhaltliche Positionen, unterschiedliche methodische Sichten und sowohl empirisch als auch theorie- und politikwissenschaftlich angelegte Studien vertreten sind. Deutlich zeigt sich, daß die Milieu-Begriffe (sozialistisches Milieu, katholisches Milieu usw.) terminologisch und inhaltlich genauer zu erfassen sind. Das wird schon deutlich an den differenzierten Standpunkten über die Bedeutung der NS-Herrschaft für die Auflösung traditioneller Sozialmilieus. Schmiechen-Ackermann arbeitet heraus, daß die Zäsuren der zunehmenden Zerstörung von Milieuzusammenhängen in der NS-Zeit sich nicht mit den Zäsuren der Zerschlagung des organisierten Widerstands decken.

Die kontroversen Diskussionen über die Rolle der katholischen und protestantischen Kirche, über Gläubige und ihr Milieu im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand reflektieren C. Rauh-Kühne und H. Otte. Unterschiedlich bewertet wird der Widerstand aus der Arbeiterschaft. Zollitsch betont die Tendenz, sich ohne nennenswerten Widerstand mit dem NS-Regime zu arrangieren, Eiber verweist dagegen auf resistente Mikromilieus der Arbeiterschaft auf lokaler Ebene, weshalb er die These von einer breiten Anpassung der Arbeiterschaft für fragwürdig hält. Auch die Kriterien für Hauptunterschiede von sozialdemokratischem und kommunistischem Widerstand bilden Reibungspunkte. Besonders kontrovers wird der kommunistische Widerstand unter dem Aspekt Kontinuität oder Zusammenbruch bewertet. Während Lehnert den sozialdemokratischen Widerstand von vornherein „objektiv als aussichtlos“ wertet, stellt B. Herlemann heraus, daß der sozialdemokratische Anteil am Arbeiterwiderstand umfangreicher gewesen sei, als er bisher oft zur Kenntnis genommen worden wäre, wobei sie das Schwergewicht auf Nichtverführbarkeit und Wertebewahrung legt.

Insgesamt ist wohl Schmiechen-Ackermann zuzustimmen, daß durch das Zusammenführen von sozial- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen und traditioneller Widerstands-Geschichtsschreibung die Darstellung und der Platz des Widerstands in der deutsche Gesellschaftsgeschichte präzisiert und weitere Schritte zu einer integrierten Sozialgeschichte der NS-Zeit gegangen werden können. Zu erhoffen wäre, daß die vielfältigen Formen des Verhaltens in der Diktatur, die von aktiver Unterstützung über Anpassung, partieller Nonkonformität und Verweigerung bis zum Widerstand reichten, differenzierter herausgearbeitet und in ihren sozialen Kontext gestellt werden, wodurch die Widerstandsforschung eine breitere Basis erhalten könne. Ob dies tatsächlich so wird, bleibt abzuwarten, da die Diskussion, den Milieuansatz für die Widerstandsforschung fruchtbar zu machen, erst begonnen hat. Der vorliegende Sammelband hat darin einen wichtigen Schritt getan, neue Fragestellungen eingebracht, erste Antworten gegeben und zahlreiche Anregungen für Forschung und weitere Debatten vermittelt. Wichtig bleibt die Mahnung von Gerhard Paul, daß bei einer zunehmenden Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Historisierung der Widerstandsforschung „die Erkenntnis von der verbrecherischen Einzigartigkeit des Dritten Reiches und von der immer drohenden Potentialität des Rückfalls in die Barbarei nicht relativiert werden und verloren gehen“ darf. (S. 41)


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite