Eine Rezension von Eberhard Fromm

 

Gründliche Aufarbeitung von Kunst, Kultur und Geschichte

Thomas Noll: Vom Glück des Gelehrten
Versuch über Jacob Burckhardt.

Wallstein Verlag, Göttingen 1997, 581 S.

 

Wie immer, wenn ein Autor sich daranmacht, über eine Persönlichkeit zu schreiben, zu der es bereits eine riesenhafte Sekundärliteratur gibt, muß er erklären, warum er gerade dieses Buch erarbeitet hat. Für den vielbeschriebenen Kulturhistoriker Jacob Burckhardt reicht da sein 100. Todestag am 8. August 1997 allein nicht aus. Thomas Noll gibt sich bescheiden, wenn er von seiner Absicht spricht, „einem breiteren Kreis von Interessierten die nähere Bekanntschaft mit Burckhardt als lohnend und beglückend darzustellen“ (S. 12). In faßlicher und lesbarer Form möchte er eine Gesamtschilderung von Burckhardts Geschichts- und Kunstauffassung geben. Dabei verzichtet er auf beinahe alle genaueren biographischen Daten und Belege, Erläuterungen und Beschreibungen, vor allem mit dem Hinweis auf die siebenbändige Biographie von Werner Kaegi, die zwischen 1947 und 1982 erschienen ist. Der anvisierte „breitere Kreis von Interessierten“ muß sich sogar die einfachsten Lebensdaten im Lexikon zusammensuchen, will er nicht vor dem Buch von Noll die sieben Bände Werner Kaegis oder irgendeine andere Biographie durcharbeiten.

Natürlich ist ein solcher beinahe totaler Verzicht auf die Biographie möglich mit der Begründung, es gehe einem um die Ansichten der beschriebenen Persönlichkeit und nicht um sein Leben. Auf beinahe 600 Seiten hätte aber wohl doch etwas mehr über Jacob Burckhardt als Person untergebracht werden können, wenn man nicht allein den Fachmann im Auge hat, der bereits alles weiß.

Zu Beginn seiner Ausführungen faßt Noll die „wesentlichen Gesichtspunkte“ der Geschichtsauffassung Burckhardts in drei Aspekten zusammen, denen er dann im einzelnen nachgehen will: „das Bestreben, die Historie als grundlegendes Studium mitzuteilen; den Wunsch, ein eigenständig-individuelles Verhältnis zur Vergangenheit zu wecken; schließlich den Glauben, es liege in der Beschäftigung mit der Geschichte etwas Beglückendes beschlossen“ (S. 20). Hier liegt natürlich ein Denkfehler des Autors vor, denn bei diesen Aspekten handelt es sich keineswegs um Burckhardts Geschichtsauffassung - zu der wird später wirklich Substantielles mitgeteilt -, sondern um seine Ansichten von der Geschichtsvermittlung, wie er sie verstanden wissen wollte und selbst betrieb.

Die Geschichts- und Kunstauffassungen Burckhardts werden dem Leser in sechs umfänglichen Abschnitten präsentiert. Die Themen reichen von der „religiösen Krise“ (I) und „Gott in der Geschichte“ (II) über die „Kontinuität des Geistes“ (III) und dem „griechischen Ideal“ (IV) bis zur „Unbedingtheit der Kunst“ (V) und einer „Bilanz des Lebens“ (VI). Dabei läßt Noll über viele Seiten Burckhardt selbst zu Worte kommen - und seine Textauswahl ist ausgezeichnet. So erfährt der Leser aus erster Hand die Grundpositionen des großen Schweizer Gelehrten. Geschichte war für ihn stets eine „Poesie im größten Maßstab“, ein „wundersamer Prozeß von Verpuppungen und neuen, ewig neuen Enthüllungen des Geistes“ (S. 130). Für ihn ging es im geschichtlichen Prozeß mehr um die Wiederholung, um das Konstante und Typische als um eine Entwicklung; das Ähnlichsein zu finden war ihm wichtiger als das Anderswerdende. „Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung“, ist ein Kernsatz des Baseler Theoretikers. Er begriff seine Zeit als eine Krisenperiode, eine Umbruchszeit, und suchte in der Geschichte und vor allem der Kulturgeschichte einen Halt und ein Motiv, für die Erhaltung sittlicher Werte einzutreten.

Thomas Noll bespricht ausführlich einzelne Arbeiten Burckhardts, so Die Zeit Constantins des Großen, Der Cicerone, seine italienische und griechische Kulturgeschichte und natürlich die Weltgeschichtlichen Betrachtungen, die wohl bekannteste Arbeit, die allerdings aus der Nachschrift einer Vortragsreihe entstanden ist. Außerdem zitiert er umfänglich aus dem großen Briefwechsel Burckhardts. So erarbeitet sich der Leser an Texten von Burckhardt seine eigenen Ansichten und Einsichten.

Ein wenig übertrieben wirken die „kursorischen“ Vorstellungen verschiedener Denker, die in einem Bezug zu Burckhardt gestanden haben und die uns Noll präsentiert. So besteht der II. Abschnitt mit seinen 76 Seiten faktisch nur aus solchen „kursorischen“ Vorstellungen von Droysen, Ranke, Bonant, Meinecke, W. v. Humboldt, Herder und Boeckh. Über Winckelmann referiert der Autor über knapp dreißig Seiten. Diese Teile des Buches machen den Eindruck eines vorbereitenden Kompendiums für ein erst noch zu schreibendes Buch, in dem die breit notierten Positionen dann gestrafft und leserfreundlich vorgestellt werden sollen. Auch die „kursorische Durchsicht“ der Griechischen Kulturgeschichte (S. 268) oder der künstlerischen Ideale und ästhetischen Werturteile Burckhardts (S. 318) machen häufig den Eindruck des nacheinander notierten Kompendiums, nicht der verarbeiteten und zusammenfassenden Interpretation und Wertung.

Wer sich trotz allem durch diese breit angelegte Vorstellung wichtiger Passagen Burckhardts hindurchgearbeitet hat, wird belohnt durch eine reiche Auswahl Burckhardtscher Texte und vielleicht angeregt, diese Texte einmal pur, ohne die ihnen angehefteten Erklärungen zu lesen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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