Eine Rezension von Herbert Schwenk

 

Rathenau - ein „Mann vieler Eigenschaften“

Hans F. Loeffler: Walther Rathenau - ein Europäer im Kaiserreich

Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1997, 202 S.

 

Am Vormittag des 24. Juni 1922 fiel der damalige deutsche Reichsaußenminister Dr. Walther Rathenau in der Koenigsallee in der Villenkolonie Grunewald einem von Mitgliedern der geheimen terroristischen „Organisation Consul“ verübten Attentat zum Opfer. Das Buch nimmt den 75. Jahrestag des Mordes zum Anlaß, um neue Einsichten in das Denken und Wirken Rathenaus zu vermitteln und sich mit dem bisher über diesen bedeutenden Politiker jüdischer Abstammung bestehenden Bild auseinanderzusetzen. Der am 29. September 1867 geborene älteste Sohn des AEG-Begründers Emil Rathenau (1838-1915) war - im Unterschied zu den meisten Politikern unserer Zeit - ein „Mann vieler Eigenschaften“, der drei Karrieren nebeneinander absolviert hat: in der Wirtschaft als Ingenieur, Finanzier und Manager (u. a. von 1893-1899 als Direktor der Elektrochemischen Werke GmbH in Bitterfeld, von 1902-1907 als Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft und ab 1899 im Vorstand der AEG sowie seit 1915 als deren Präsident), in der Politik (u. a. 1914/1915 als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Preußischen Kriegsministerium, seit 1919 als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und Berater der Reichsregierung in Reparationsfragen, 1921 als Reichsminister für Wiederaufbau im 1. Kabinett Joseph Wirth [1879-1956] und 1922 als Reichsaußenminister in der 2. Wirth-Regierung, als er zusammen mit seinem Reichskanzler den Rapallo-Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnete) und letztendlich auch als vielgelesener Schriftsteller (u. a. 1913 „Zur Mechanik des Geistes“). Obwohl es keinen Mangel an Literatur über Leben und Werk Walther Rathenaus gibt, fehlt bislang eine geschlossene Rathenau-Biographie mit einer komplexen Sicht auf sein Werk. („... eine überzeugende Biographie Walther Rathenaus steht noch aus.“) Das bisherige Bild über Rathenau wurde stark von der 1928 erschienenen Lebensbeschreibung von Harry Graf Kessler (1868-1937) dominiert. Hans F. Loeffler beschränkt sich in seinem Buch auf wenige notwendige biographische Details, um das Hauptaugenmerk dem schriftlichen Werk Rathenaus „als dem verläßlichsten Schlüssel zu seiner Person“ zu widmen. Ausdrücklich erklärt der Autor, er wolle mit seinem Buch die „wuchernde Spekulation über [Rathenaus] vermeintliche oder auch echte Schwächen“, etwa über Ehe- und Kinderlosigkeit oder nicht bewiesene Homosexualität, nicht vermehren.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht das geistige Erbe Walther Rathenaus. Und so schwierig die Einarbeitung in das Denksystem jenes Mannes ist, den Stefan Zweig (1881-1942) „ein amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmenschen und Denker“ nannte, so intensiv bemüht sich Loeffler in seinem Buch, dem Leser das Werk Rathenaus in seiner Komplexität übersichtlich nahezubringen. Er entkräftet dabei nicht nur früher gegen Rathenau erhobene Vorwürfe, sondern entdeckt neue Züge, die sich angesichts europäischer Einigungsprozesse in unserer Zeit als visionär erweisen und Rathenaus Bedeutung als Europäer in ein neues Licht rücken. Der zweite Buchteil „Logik und Sinn der Einigung der Welt“ lotet in diesem Sinne den komplexen Charakter des wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, philosophischen und politischen Denkens Walther Rathenaus neu aus. Dazu gehört die stärkere Beachtung des naturwissenschaftlichen Anteils unter Einschluß damaliger wissenschaftlicher Entwicklungstendenzen. Rathenau dachte bereits in Kategorien wie Teil- und Gesamtsysteme, Vernetzung, Ab- und Kreisläufen usw. Auch sein Dissertationsthema „Die Absorption des Lichts in Metallen“ (1889) läßt auf sein tiefes physikalisches Verständnis schließen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse hatten erheblichen Einfluß auf das ökonomische und philosophische Denken Rathenaus. Sein Hauptwerk Zur Mechanik des Geistes sowie seine These von der „Mechanisierung der Welt“ weisen den „frühen Kybernetiker“ aus. Angesichts heutiger Globalisierung erscheint es verblüffend aktuell, wenn er auf der Grundlage zunehmender Vernetzung „eine einzige, untrennbare Wirtschaftsgemeinschaft“ voraussah. Rathenau hielt die Zeit der Nationalstaaten im Prinzip für beendet. Auch seine Vorschläge zur demokratischen Planung und Steuerung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses erwiesen sich als relevant und fanden zwei Jahrzehnte später nach der Weltwirtschaftskrise in den Theorien des englischen Nationalökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) Bekräftigung und Weiterführung. Ist der gegenüber W. Rathenau erhobene Vorwurf der „Mechanisierungsfeindlichkeit“ bereits völlig unverständlich, so widerlegt Hans F. Loeffler auch die Haltlosigkeit eines angeblichen „Rassismus“ und „Antisemitismus“ im Denken Rathenaus. Im dritten Buchteil „Wahrheit und Vorurteil“ setzt sich Loeffler breit angelegt mit dem Antisemitismus und Rassismus auseinander und weist nach, daß der AEG-Chef und Politiker Walther Rathenau weder Antisemit noch Zionist war und der Vorwurf des „Rassismus“ auf einem alten Mißverständnis beruht.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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