Eine Rezension von Christian Böttger

 

Die genossenschaftliche Ordnung als Zukunftsvision

Werner Kruck: Franz Oppenheimer - Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Selbsthilfegesellschaft

Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1997, 434 S.

 

Nach dem Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ müssen viele Experten heute besorgt feststellen, daß auch die westliche Produktions- und Konsumtionsweise, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, an Grenzen stößt, ja offenbar gänzlich ins Wanken gerät. Von der politischen „Linken“ - eigentlich gesellschaftlich zuständig für soziale Utopien und Visionen - ist zur Zeit kein konstruktiver Gesamtentwurf zur Lösung der anstehenden ökonomischen Probleme zu erwarten. Sie hat sich nach dem Desaster des praktizierten Marxismus Refugien gesucht, sich in Nischen zurückgezogen, von wo aus sie sich häufig erneut in wirklichkeitsfremde Multi-Kulti-Phantasien verrennt, oder aber ihre Vertreter sind beim Marsch durch die Institutionen an gutbezahlte Positionen gelangt, in denen man sich inzwischen vor nichts mehr fürchtet als vor gesellschaftlichen Veränderungen. Sprachlosigkeit herrscht angesichts der sozialen Auswirkungen der Globalisierung, hat doch zu allem Unglück ausgerechnet auch noch der Internationalismus die Fronten gewechselt und ist heute unverkennbar auf der Seite des Kapitals anzutreffen. Es kann also niemanden mehr ernsthaft in Erstaunen versetzen, wenn antikapitalistisch oder ökologisch motivierte gesellschaftliche Alternativen und Zukunftsvisionen heute zunehmend auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus entwickelt werden.

Einen solchen Beleg dafür bietet die vorliegende, soeben erschienene Publikation, die 1996 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Bergischen Universität - Gesamthochschule Wuppertal als Dissertation angenommen wurde. Der Autor, 1960 in Duisburg-Rheinhausen geboren, absolvierte erst eine Handwerkslehre, bevor er ab 1984 ein Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften antrat. Dieser Hinweis erscheint mir wichtig, bringt doch der Sozialforscher immer auch mit seiner Biographie spezielle Neigungen und Wertorientierungen mit, die selektiv seine Wahrnehmungen und soziale Erkenntnisfähigkeit prägen.

In dem vorliegenden Werk wird die Theorie des hauptsächlich in Berlin wirkenden Mediziners und Sozialreformers Franz Oppenheimer vorgestellt, der 1919 als erster deutscher Professor auf den ordentlichen Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie und Soziologie in Frankfurt am Main berufen wurde. Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil wird, um den Ideenhintergrund Oppenheimers sichtbar zu machen, die Wahrnehmung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert rekapituliert, während der zweite sich unmittelbar mit dem theoretischen Ansatz Franz Oppenheimers auseinandersetzt. Den Kern der allgemeinen Theorie Oppenheimers bildete der Ausgleich aller Einkommen durch monopolfreien Wettbewerb. Die Existenz einer industriellen Reservearmee, hervorgerufen ursprünglich durch die Aussperrung der Unterschichten vom Boden, war für ihn das Grundproblem der sozialen Frage. Oppenheimer betrachtete sich als einen „liberalen Sozialisten“, der seinen „großen Meister“ Karl Marx aufs höchste verehrte, dessen Werk er aber von den, wie er meinte, vorhandenen Schlacken befreien und weiterbilden wollte. Seine Zweifel an der Richtigkeit der marxistischen Gesellschaftskonzeption bezogen sich auf das dem Marxismus zugrunde liegende Menschenbild, auf die psychologischen Voraussetzungen des Kommunismus, die nach Oppenheimers Auffassung nicht gegeben sind und nicht geschaffen werden können. Er lehnte auch die sich auf ein loyales Beamtentum stützende Planwirtschaft kategorisch ab und verteidigte demgegenüber den Markt. Nicht die Beseitigung des freien Marktes, sondern die Verwirklichung der freien Konkurrenz durch die Beseitigung der sie behindernden Monopolformen (Bodensperre usw.) mache erst den Sozialismus möglich.

Die Bodensperre sieht Oppenheimer in einem engen Zusammenhang mit der von ihm entwickelten soziologischen Staatsauffassung, die auf der Vorstellung einer exogenen Entstehung der „Herrschaft“ basiert und mit der er an den Grazer Staatsrechtslehrer Ludwig Gumplowicz anknüpft. Als disjunktiver Grundbegriff zur „Herrschaft“ wird von ihm der Begriff der „Genossenschaft“ als die Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftssystem ausgebaut. Damit lehnt sich Oppenheimer an den Rechtslehrer Otto von Gierke (1841-1921) an, der im „Kampf zwischen Herrschaft und Genossenschaft“ den Inhalt der Weltgeschichte sah, einen Kampf, den er letztlich wieder zugunsten des genossenschaftlichen Prinzips entschieden haben wollte, den er aber für notwendig hielt, um die Institution Genossenschaft einer neuen, höheren Qualität zuzuführen.

Werner Kruck folgt so auch ganz dieser Logik, wenn er im dritten Teil von einer übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Betrachtung der Ökonomie zu den verschiedenen Segmenten der Genossenschaftsunternehmen und ihren Teilmärkten übergeht und schließlich im Schlußkapitel zu den sich ihm darstellenden Perspektiven, die sich aus der Überwindung der „Herrschaft“ und ihrer geistigen wie materiellen Institutionen im Genossenschaftswesen ergeben, gelangt.

Was aber ist nun neu an diesem Buch, was macht die besondere Qualität aus gegenüber den zahlreichen sozialen Analysen und antikapitalistischen Zukunftsentwürfen der 70er und 80er Jahre? Da wäre zunächst die an Oppenheimer anknüpfende Rezeption der Lehre der Organik und ihre kritische Anwendung auf die Gesellschaft. Die praktische Gleichsetzung einer Volkswirtschaft mit einem Mechanismus und seinen linearen Kausalverhältnissen wird durch eine organologische Sicht auf das Sozialsystem, das eben als ein Sozialorganismus begriffen wird, ersetzt. So wie im biologischen Organismus jede Zelle mit einer anderen in einem Wirkungszusammenhang steht, so wird Kausalität auch im Sozialorganismus als das Ursache-Wirkungs-Gefüge des Kreislaufprozesses, als die Interdependenzen der Kreislaufpole aufgefaßt. (S. 29)

Als nächstes fällt die Rezeption und soziologische Weiterentwicklung des Gemeinschaftsbegriffes ins Auge. Wurde noch vor einigen Jahren in der sozialwissenschaftlichen Literatur der ein ungezwungenes soziales Verhalten garantierenden „Anonymität und Unüberschaubarkeit“ das Wort geredet und jede Gemeinschaft mit einer „Diktatur des scheelen Blicks“ (Klaus Bergmann 1970, S. 163) gleichgesetzt, so scheint sich doch zunehmend wieder die Erkenntnis durchzusetzen, daß die Ideologie der Atomisierung und Isolation auf Herrschaftsinteressen bestimmter gesellschaftlicher Kräfte zurückgeht und der übertriebene individualistische Lebensstil sozial schädlich ist. (S. 323) Gemeinschaften werden vom Autor als kooperative Geflechte dargestellt, die durch langfristige Bindungen, direkte Interaktionen und gegenseitige Sanktionsmöglichkeiten (im Gegensatz zu einseitigen Sanktionsmöglichkeiten der Herrschaft) gekennzeichnet sind. Interessant in Verbindung mit dem vom Autor vorgestellten Gemeinschaftsbegriff ist der bereits von Oppenheimer herausgestellte Zusammenhang von Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und der Einhaltung bzw. Nichteinhaltung sozialer Normen (S.251f.). Einige Auffälligkeiten unserer Kriminalstatistik, die zunehmend unter den Teppich gekehrt werden, um ebendiesen Zusammenhang zu verschleiern, werden dadurch verständlicher.

Die dritte Besonderheit dieser sozialökonomischen Arbeit mit ihrer eindeutig gegen den Neoliberalismus gerichteten antikapitalistischen Tendenz ist die Ablehnung der klassischen marxistischen Idee der „marktlosen Gesellschaft“ (Planwirtschaft). Vielmehr geht es dem Autor in Einklang mit Franz Oppenheimer um die Umwandlung der Gesellschaft in eine genossenschaftliche Ordnung, die in einem freien Wettbewerb durch Wegfall der Hemmungen der Konkurrenz, d. h. Ausschaltung aller Privilegien und Monopole, zu einem Ausgleich aller Einkommen führt. An die Stelle des zentralisierten Herrschaftsapparates tritt eine kleinräumig organisierte verfeinerte Technik der Bürgerorganisation. Es bleibt allerdings fraglich, ob sich tatsächlich alle Privilegien und Monopole als Hemmungen der Konkurrenz ausschalten lassen, denn das setzt ihre vollständige Erkennbarkeit voraus.

Auf eine Reihe bestimmter Detailfragen der Arbeit, z. B. ob der Autor in Anlehnung an Franz Oppenheimer den Marxschen Wertbegriff richtig erfaßt und verarbeitet hat, oder ob man tatsächlich die Produktion als eine Sonderform von Dienstleistungen (S. 210) betrachten kann (der Dienstleistungsbereich lebt als tertiärer Sektor im wesentlichen nur von der Umverteilung von Nationaleinkommen, also von der produktiven Sphäre einer Volkswirtschaft), soll hier nicht ausführlich eingegangen werden.

Alles in allem kann die Arbeit mit ihrer Rezeption und Weiterentwicklung der Lehre Franz Oppenheimers als ein wesentlicher Beitrag zum Anschub des gesellschaftlichen Diskurses um soziale Perspektiven und Alternativen zum herrschenden kapitalistischen System und zum untergegangenen Staatssozialismus gewertet werden, auch wenn er eher den Fachmann als den Laien ansprechen wird. Besonders hervorzuheben ist abschließend noch das übersichtlich erarbeitete Stichwortverzeichnis, das die Arbeit mit dem Buch sehr wesentlich erleichtert.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite