Eine Rezension von Eberhard Fromm

 

Das ist unsere Geschichte!

Alexander Koyré: Vergnügen bei Platon

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1997, 159 S.

 

Selten stimmt ein Titel so genau mit dem Leseerlebnis überein wie bei diesem Buch: Mit echtem Vergnügen läßt man sich von Alexander Koyré durch das Denken des griechischen Philosophen Platon führen. Und das gilt nicht allein für den, der Platon vielleicht schon ein wenig gelesen hat; auch der Neuling in Sachen griechischer Philosophie fühlt sich unterhaltsam angesprochen und mitgenommen.

Der russisch-französische Philosoph Alexander Koyré (1892-1964) zählt zu den namhaften Philosophie- und Wissenschaftshistorikern unseres Jahrhunderts. Seine Arbeiten zu Descartes, Galilei, Kepler und Newton wie auch zu übergreifenden Themen gehören zum festen Bestand moderner Wissenschaftsgeschichte. In seinem Nachwort hebt Horst Günther mit Nachdruck die Bedeutung Koyrés hervor: „Unter den Philosophen ist Alexander Koyré der erste Wissenschaftshistoriker geworden, und unter den Historikern der exakten Wissenschaften ist er der einzige Philosoph.“ (S. 155)

Die Einführung in Platons Texte wird in zwei Gängen serviert: Koyré beginnt mit den Dialogen „Menon“, „Protagoras“ und „Theaitetos“, um dann zum Thema „Politik“ überzugehen.

Die Dialoge werden geradezu warmherzig empfohlen: Die wunderbaren Texte hätten nichts von ihrer Lebendigkeit und Aktualität eingebüßt, sie stellten allerdings eine besondere literarische Gattung dar, bei der man sich heute schwertue. Die Dialoge seien eigentlich dramatische Werke und müßten in ihrer dramatischen Spannung begriffen werden. Die eigentümliche Schwierigkeit der Dialoge, ihre Offenheit, Unabgeschlossenheit und vor allem die Forderung nach intellektueller Anstrengung beim Leser ergibt sich nach Koyré aus der Ansicht Platons, Philosophie sei nicht für jedermann bestimmt.

In den folgenden drei Texten macht der Autor auf einsichtige Art auf die wirklichen Frage- und Problemstellungen aufmerksam, zeigt, wie die sokratische Kunst der Fragestellung dazu führen soll, eigene Antworten zu finden. Das wird im „Menon“ exemplarisch an der Frage „Ist Tüchtigkeit lehrbar?“ vorgeführt. Es wird gezeigt, wie die sokratische „Hebammenkunst“ Wissen und Ideen aus der Seele des Menschen hervorholen kann. Und es wird auch die negative Konsequenz gezeigt: Der Frager Menon begreift Sokrates nicht, denn er kann nicht denken, weil ihn die Wahrheit gar nicht beschäftigt. Denken setzt „eine Leidenschaft für die Wahrheit“ (S. 27) voraus. Im „Protagoras“ geht es um ähnliche Fragestellungen, jedoch ist der Partner/Gegner im Disput hier ein geübter Sophist. Für Koyré ist dies der schönste und amüsanteste Dialog, den Platon verfaßt hat. Im abschließenden „Theaitetos“ wird das Problem der Natur der Wissenschaft diskutiert.

Koyré skizziert in seinen Einführungen stets nur die Grundsituation der beteiligten Gesprächspartner und benennt die Hauptfragen. Ansonsten ist er darum bemüht, dem Leser seinen Platz als Zuhörer des Disputs zuzuweisen, weil allein von dieser Stellung her die Antworten gefunden werden können, die Sokrates eben nicht direkt gibt.

An die Spitze der Einführung in das politische Denken Platons stellt der Autor die Feststellung, daß das philosophische und das politische Problem bei ihm eine Einheit bilden. „Sokrates mußte sterben, gerade weil er Philosoph war. Er mußte sterben, weil es für ihn - für den Philosophen - keinen Platz im Staat gab“ (S. 76), so umreißt Koyré das Problem und zeigt, daß sich daraus verschiedene Lösungen ergeben: der Rückzug in die Kontemplation, in das Private oder aber der Versuch, den Staat zu reformieren. Das Anliegen einer politisch-moralischen Reform des Staates steht bei Platon im Mittelpunkt seines Schaffens, wobei er als den einzigen Weg eine Reform der Bildung ansieht, damit die Philosophie die ihr zukommende zentrale Rolle spielen könne bei der Heranbildung von Eliten. Diese Fragen werden in der „Politeia“, der großen Arbeit Platons über den Staat, behandelt. Koyré stellt Platons Ideen von einem vollkommenen (idealen) Gemeinwesen, aber auch von den unvollkommenen (wirklichen) Gemeinwesen vor. Auf die Beziehung zwischen dem idealen und wirklichen Staat geht der Autor mit dem interessanten Hinweis ein, daß es gar nicht so bedeutsam sei, ob das ideale Gemeinwesen realisierbar wäre oder nicht. „Wir wissen, daß es das als Idee sehr wohl ist, und das muß uns genügen, um unser Handeln zu leiten und um zugleich die unvollkommenen Gemeinwesen, in denen zu leben unser Schicksal uns nötigt, zu verstehen und zu beurteilen.“ (S. 126)

Überhaupt sind die aktuellen Bezüge, die Alexander Koyré anklingen läßt, niemals vordergründig, sondern ergeben sich aus seiner prinzipiellen Auffassung, daß Platon sich mit der menschlichen Natur befasse, die sich in den Jahrhunderten wenig verändert habe. Wenn daher Platon den Verfall der athenischen Demokratie beschreibe, dann, so meint Koyré, kommt der heutige Leser nicht umhin festzustellen: Das ist unsere Geschichte! Vielleicht erwächst ja ein Teil der inneren Anteilnahme und Spannung, mit der man der Einführung Koyrés in Platons Denken folgt, gerade aus dieser aktuellen Bedeutung.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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